September 2022
___________________________________

Herrschaft, Macht, Gewalt, Krieg. Diese dreckigen Kategorien. Ja, früher waren unsere Staaten so. Brutal, rücksichtslos, Millionen Tote. Aber heute? Wir haben doch Demokratie, durch Wahlen legitimierte Macht, Teilung der Gewalten, Menschenrechte. Ist also im Westen gut geworden, was einst abscheulich war? Ist aus dem Club der Imperien, der kriminellsten Staaten der Weltgeschichte, eine Wertegemeinschaft entstanden?

Im globalen Süden glauben das wenige, bei uns sehr viele. Wo die Erinnerung an koloniale Versklavung und rassistisch begründeten Massenmord noch wach ist, traut niemand dem Edelmut des Westens. Wo die Erfahrung westlicher Bomben oder räuberischer Erpressung durch den IWF noch frisch ist, da wird Heuchelei schnell erkannt. Aber unsere Mitbürger*innen scheinen den hehren Zielen zu folgen, die ihnen Biden, Stoltenberg oder Baerbock präsentieren.

Selbst kritische Zeitgenoss*innen, die mikroskopisch exakt jede Ungerechtigkeit des Alltags sezieren, laufen mit, wenn das Framing plausibel klingt. Zu Hause ist Mord Mord, wird selbst ein falscher Zungenschlag, ein fehlplatzierter Rastalook zum Skandal. Draußen in der Welt dürfen Hunderttausende ferngesteuert sterben. Kein Kommentar, keine Empathie, kein Protest. Selfies mit dem Drohnenkiller Barack Obama sind begehrt.

Wie ist diese Ignoranz zu erklären? Offenbar haben sich die Guten und die Edlen daran gewöhnt, die dreckigen Kategorien zu meiden. Außenpolitik, Geostrategie, Militärdoktrin – Fremdwörter im modernen, sprachgeschulten Gehirn. Macchiavelli, Clausewitz, Wolfowitz, Ellsberg – schon mal gehört, aber ist nicht mein Ding.

Mit dem Ukrainekrieg Russlands und mit dem heraufziehenden Kampf der USA gegen China ist nun zunehmend Haltung gefordert. Die geistige Abstinenz vom Power Game ist eine schwindende Option. In dieser misslichen Lage können uns die alten Römer helfen. Ihre zentralen Grundsätze des Staatshandelns sind immer noch gültig. Wer sie kennt, hat einen kleinen Schutzschirm gegen allzu große Naivität.

Divide et impera

Teile und herrsche. Du musst deine Gegner spalten, wenn du bestimmen willst. Dieses Alpha der Politik ist allen bekannt, wird aber selten erkannt. Die aktuellste deutsche Fassung lautet: Nie wieder Auschwitz, deshalb aufrüsten, Waffen liefern, zu Opfern bereit sein. Wer Friedensverhandlungen und Interessenausgleich fordert, sei moralisch bankrott. Der doppelte Impuls vergangener Tage – nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg – wird sorgsam zerlegt. So ist dem kühlen Kopf, der misstrauisch alle beteiligten Seiten und die Eskalationsgefahren zu verstehen versucht, der ethische Boden entzogen. So werden die Zweifler isoliert und die von Bildern Schockierten eingemeindet. So hatte bereits Joschka Fischer 1999 die Grünen auf Kriegskurs gebracht.

Divide et impera ist das Fundament aller Herrschaft. Sein Pendant ist die Basis des Widerstands: United we stand, divided we fall. Diese Weisheit unterdrückter Länder und aufbegehrender Klassen wirkt heute bisweilen verstaubt, der pluralen Wirklichkeit nicht angemessen. Und doch erfährt jede Allianz, jede Bewegung, wenn sie erfolgreich sein will, aufs Neue: Gegenmacht ist geballte Macht, sonst ist sie keine.

Si vis pacem para bellum

Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Dieser zweite Grundsatz schien über Jahrzehnte aus der Zeit gefallen zu sein. Er ist wieder da, vor allem bei den Großmächten, die ihn auf ihre Weise neu definieren. Wenn du deinen Frieden willst, wenn du deine Bedingungen diktieren willst, habe stets Waffen bereit, die für deine Gegner unkalkulierbare Risiken sind. Was dieser Grundsatz praktisch bedeutet, ist entweder sehr offensichtlich (Aufmarsch von Streitkräften) oder sehr geheim (Androhung von Nuklearschlägen). Immer gilt: Betone, dass du den Frieden willst und der Gegner dich zur Abwehr zwingt.

Sensibel und scharfsinnig schrieb Walter Benjamin 1926: „Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg.“ Schaut Euch genau an, wer den Frieden bedroht. Aber das ist längst nicht mehr genug. Es geht um mehr: Si vis pacem para pacem. Wer den Frieden will, bereite den Frieden vor. Angesichts der beiden existentiellen Gefahren – des schnellen Atomkriegstodes und des langsamen Klimatodes –  ist globale Kooperation zur conditio sine qua non geworden.

Principiis obsta

Wehre den Anfängen. Vernichte deine Gegner, wenn sie noch klein sind. Zögere nicht, wenn du jene Übel erkennst, die dich, wenn sie größer werden, bedrohen könnten. Dieser dritte Grundsatz kannte selten Gnade. Früher hieß das: Ketzer verbrennen, Kommunarden erschießen, Sozialisten und Kommunistinnen exekutieren, auch wenn sie erst 20 sind. Heute sind Mord und Folter im Westen nur noch in Ausnahmen opportun oder werden CIA-Gefängnisse outgesourct.

Was einst die physische Vernichtung war, ist jetzt eher die prophylaktische Konfusion: Zwietracht säen, Anliegen ins Lächerliche ziehen, führende Köpfe moralisch ins Unrecht setzen, Anpasser loben, Schuld und Scham verbreiten. Dummer Schüler der alten Römer war immer wieder die Linke: Statt den kollektiven Willen wachsen zu lassen, war man von Anfang an bei minimalen Differenzen maximal erregt.

Respice finem

Bedenke das Ende. In vollständiger Fassung: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem. Was immer du tust, tu es klug und beachte die Folgen. Häufig sind es konservative Realisten, die zur Umsicht mahnen und Exit-Strategien fordern. Ihr Rat verhallt, wenn der Wahn allseitiger Überlegenheit regiert. So steht auch das US-Imperium immer wieder vor den Ruinen seiner eigenen Taten: Iran, Vietnam, Afghanistan, Irak. Was anfangs militärischer Erfolg zu sein schien, verwandelte sich in unendliches menschliches Leid und am Ende in politisches Desaster.

Verdammt jeden Krieg, jede Aufrüstung, bewahrt die Lebensgrundlagen. Das wäre respice finem auf der Höhe der Zeit. Nicht jeder für sich und alle gegeneinander auf der Jagd nach den Reichtümern dieser Welt. Nicht nach den Maßstäben der Macht erobern und unterdrücken. Sondern überzeugen, für tolle Projekte begeistern, der Ausbeutung von Mensch und Natur harte und verlässliche Grenzen setzen. Aus NATO wird NASOW: Nonviolent Alliance for the Sustainable Organization of Welfare. Weltweite Zusammenarbeit statt Rückkehr zur Gewalt, um unser gemeinsames Haus Erde zu retten.

Dieser Text erschien in gekürzter Fassung in: JACOBIN N°10/2022