Bilanz rot-grüner Unternehmensbesteuerung: Zu feige oder einfach nur nützliche Idioten des Kapitals?

„Sie ist zu hoch.“ „Sie ist entschieden zu hoch.“ „Sie verhindert Wachstum und Beschäftigung in Deutschland.“ Solche oder ähnliche Urteile sind immer wieder zu hören, wenn um es um die steuerliche Belastung von Unternehmen geht. Werden eklatante Fälle von Steuertrickserei bekannt, wie jüngst bei Vodafone, dann gibt es schon mal einen kleinen Aufschrei. Aber das Dogma selbst wird ständig wiederholt. Schlechter steht es um die stichhaltige Beweisführung, die in Talkshows kaum zu hören ist. Kein Wunder: Denn die harten Fakten erzählen eine ganz andere Geschichte. Die Bundesrepublik ist für Unternehmen ein Steuerparadies und nicht, wie die mediale Massensuggestion uns glauben lässt, ein Standort mit unerträglichen Lasten.
Lorenz Jarass, Wirtschaftsprofessor in Wiesbaden und einer der renommiertesten Steuerexperten der Republik, hat gemeinsam mit seinem Kollegen Gustav Obermair die von den Unternehmen tatsächlich gezahlten Ertragssteuern errechnet und zu den Unternehmensgewinnen ins Verhältnis gesetzt (siehe Tabelle). Demnach ist die steuerliche Belastung der Unternehmen im Zuge der rot-grünen Steuerreformen dramatisch gesunken.
Profitiert haben vor allem die Kapitalgesellschaften: nach jeweils 20,9 Prozent in den Jahren 1999 und 2000 beträgt ihre Belastung (mit Körperschafts- und Gewerbesteuern) im Folgejahr nur noch 7,7 Prozent und auch danach, trotz steigenden Aufkommens, nur etwa die Hälfte des vorher fälligen Anteils. Bei der Berechnung der gesamten steuerlichen Belastung von Kapitalgesellschaften ist zusätzlich die von den Kapitaleignern gezahlte Dividendensteuer auf ausgeschüttete Gewinne zu berücksichtigen. Ihr Aufkommen ist vorübergehend im Jahr 2001 aufgrund von Sonderfaktoren (Anstieg der ausgeschütteten im Verhältnis zu den einbehaltenen Gewinnen) sehr stark gestiegen und danach wieder auf das zuvor erreichte Niveau gefallen.
Insgesamt war die ab Jahresbeginn 2001 wirksame „Reform“ der Unternehmensteuer für die Kapitalgesellschaften ein phantastischer Deal. Wären die Unternehmensgewinne der Jahre 2001 bis 2003 steuerlich in gleicher Weise herangezogen worden wie im Jahr 2000 hätten sie in der Summe dieser drei Jahre 180,9 Milliarden Euro zahlen müssen. Dank „moderner Wirtschaftspolitik“ waren es dann nur noch 104 Milliarden – eine Ersparnis von 76,9 Milliarden. Nimmt man noch die Personengesellschaften und die Selbstständigen hinzu, die – nach diesem Rechenmodell – ihrerseits 26 Milliarden Euro weniger zahlten, ergibt sich ein Steuergeschenk in der unglaublichen Höhe von 102,9 Milliarden Euro, durchschnittlich pro Jahr also 34,3 Milliarden. Zum Vergleich: Der gesamte Etat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung beträgt gegenwärtig gut acht Milliarden Euro. Das „Thema Innovation“, das der Kanzler so gern im Munde führt, wäre längst „gegessen“, zumindest finanziell. Ganz zu schweigen von der Not, in die Arbeitslose mit den Hartz-Gesetzen gestürzt werden – mit einem etwas höheren Obolus von den Unternehmen könnte man das in der Vergangenheit geltende Sicherungsniveau ohne weiteres finanzieren.
Mit ihren Steuergesetzen haben SPD und Grüne den zeitweiligen, von 1998 bis 2000 anhaltenden Trend zu einer höheren Belastung der Unternehmensgewinne aufgehoben und ins Gegenteil verkehrt. Die gesamten Ertragssteuern auf Unternehmens- und Vermögenseinkommen waren 2003 kaum höher als 1990 (siehe Grafik), trotz eines zwischenzeitlichen Wachstums der Unternehmensgewinne um knapp 60 Prozent. Was unter Helmut Kohl in den achtziger Jahren begann, hat die rot-grüne Bundesregierung nach dem Abgang von Oskar Lafontaine nahtlos fortgesetzt: im Verhältnis zur Lohnarbeit wird das Kapital immer weniger zur Kasse gebeten. Im vergangenen Jahr zahlten die Unternehmen im Durchschnitt aller Rechtsformen von 100 Euro Gewinn nur noch gut 14 Euro Ertragssteuern.
„Wir müssen uns dem internationalen Steuerwettbewerb stellen“ – so lautet das übliche Argument, um immer wieder neue Steuersenkungen zu fordern. Der aktuelle Renner ist die Slowakei mit ihrem Einheitstarif von 19 Prozent auf alle Einkommensarten. In Deutschland dagegen seien 25 Prozent Körperschaftsteuer fällig, dazu noch die Gewerbesteuer und schließlich die Dividendensteuer – eine Last, so scheint es, die „unsere Unternehmen“ ins Ausland treiben muss.
Dass die nominell gültigen Steuersätze mit der Realität der tatsächlich gezahlten Steuern nichts zu tun haben, ist das sorgsam gehütete Geheimnis. In keinem anderen europäischen Land klafft eine so große Lücke zwischen den statistisch ausgewiesenen und den gegenüber den Finanzämtern angemeldeten Unternehmensgewinnen. Der Steuerdschungel, von Hans Eichel vor vier Jahren nochmals um einige Sondertatbestände verdichtet, die von den Unternehmen exzessiv genutzt wurden, ist für das deutsche Kapital ein ergiebiges Biotop. Jarass und Obermair haben errechnet, dass „nur etwas mehr als ein Viertel des ökonomischen Gewinns als zu versteuerndes Einkommen in die Steuererklärungen der Kapitalgesellschaften eingeht.“ Der Rest bleibt steuerfrei, dank legaler Zaubertricks, die man in anderen Ländern nicht kennt. Was das bedeutet, zeigt eine im vergangenen Jahr veröffentlichte offizielle Statistik der Europäischen Union: Rechnet man die Grund- und Vermögensteuern voll der Besteuerung von Unternehmens- und Vermögenseinkommen zu, hatte Deutschland im Jahre 2001 nach Griechenland mit Abstand die niedrigste Steuerbelastung in der EU.
Im Lichte solcher Zahlen erscheint die deutsche Steuerdebatte wie ein absurdes Schauspiel. Selbstverständlich sind Steuerfragen kompliziert, und die Arbeitgeberverbände haben ein Interesse daran, dass es so bleibt, damit auch in Zukunft erfolgreich manipuliert werden kann. Aber warum verschweigen politische Mandatsträger die Wahrheit selbst dann, wenn sie, wie Eichel in diesen Tagen, ihre eigenen Haushaltsentwürfe nicht mehr finanzieren können? Oder können diejenigen im Kabinett, die früher „legal, illegal, scheißegal“ riefen, nicht zwischen nominal und real unterscheiden? Sind sie zu feige oder sind sie einfach nur nützliche Idioten des Kapitals?

Quelle: Lorenz Jarass und Gustav M. Obermair, Sinkende Steuerbelastung von Unternehmens- und Vermögenseinkommen, in: Wirtschaftsdienst Heft 3, März 2004