PDS-Parteitag in Halle: Immer wieder der Appell, die historische Chance nicht zu verspielen
Wer vom Bahnhof kommend Halle an der Saale durchquert, um nach 20 Minuten bei der PDS zu landen, hat einen ersten „Grundkurs Historischer Materialismus“ absolviert. Welche platten Konstrukte nicht funktionieren, welches bürgerliches Erbe zu bewahren und wo ganz Neues zu schaffen ist – die Stadt stellt im Vorbeigehen die Fragen, vor denen die deutsche Linke steht. Und direkt neben dem Kongressort, an der Kellnerstraße – auch das passt zum symbolischen Arrangement – ist noch ein großes Grundstück frei.
Die Händelhalle ist in jeder Hinsicht gut gewählt. Ein gelungener Zweckbau mit Hang zum Sakralen, steile Emporen für die Gäste und am Kopfende eine Orgel über dem Präsidium. Hier lassen sich pathetisch hehre Ziele besingen, hier kann man Bilanz ziehen nach einem sehr erfolgreichen Jahr. Der gemeinsam mit der WASG erzielte Wahltriumph, das engere Verhältnis zu den Gewerkschaften, die Mitgliederzahl, die sich bei 61.500 stabilisiert – der große Schritt nach vorn wird auf dem Parteitag mit Stolz gewürdigt. Aber was ist er wert, wenn die Vereinigung nicht gelingt? Die Profis der Partei mahnen zur Besonnenheit. „Die Gründung der WASG ist auch eine Kritik an der PDS“, sagt Parteichef Lothar Bisky.
Wolfgang Gehrcke, außenpolitischer Sprecher der Linkspartei im Bundestag, fordert die Delegierten auf, sich konsequent auf den Standpunkt des gemeinsamen Projekts zu stellen: „Die Probleme der WASG sind auch unsere Probleme.“ Deutlicher, unmissverständlicher wird Gregor Gysi in einer furiosen Rede. Die Linke sei spät dran, aber sie könne nach der langen Serie von einseitigen Übernahmen zum ersten Mal in der Geschichte nach 1989 das verwirklichen, was auch andere hätten machen sollen: eine echte Vereinigung von Gleichberechtigten, die ihre jeweilige Geschichte wechselseitig verstehen. Provozierend fügt er hinzu, um in den Köpfen die Perspektiven zu lockern: „Der DDR-Sozialismus war ein historischer Zufall. Die Sowjetarmee hätte auch in Bayern landen können.“ Nur wer bereit sei, die Umkehrung zu denken, könne souverän werden und die Fallen vermeiden, die sich ergeben oder bewusst aufgestellt werden. Souveränität ist auch bei anderen Themen Gysis Leitmotiv. „Ja“, sagt er, „die Kritik am Kapitalismus wird schärfer, aber wir dürfen unsere Kritik am DDR-Stalinismus nicht zurücknehmen.“
„Ja“, meint er, „Kuba hat im Unterschied zu uns eine eigene Revolution geschafft, und seine Verdienste bleiben unbestritten“, aber angesichts eines Ein-Parteien-Systems und von Menschenrechtsverletzungen sei nicht bedingungslose, sondern kritische Solidarität die angemessene Haltung. Und Souveränität fordert er auch von denjenigen, die von ihm sarkastisch als
die „außerirdische Strömung“ ironisiert werden: Wer nur seine Radikalität pflegt und von Koalitionen prinzipiell nichts wissen will, habe seinen eigenen totalitären Anspruch noch nicht erkannt und könne unpolitisch immer nur auf die ganz ferne Zukunft verweisen.
In einem Punkt freilich ist auch Gysi selbst nicht souverän. Eine kritische Würdigung der PDS-Beteiligung an den Landesregierungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ist nicht zu hören. Dieser aktuell wundeste Punkt einer Vereinigung mit der WASG wird vom Parteitag insgesamt viel zu wenig angesprochen. So setzt sich auch in Halle der seit Jahren zu beklagende Mangel fort: Statt offen zu kommunizieren, welche Spielräume es in der jeweiligen Koalition gibt und welche nicht, wie sie genutzt und wo sie mangels Erfahrung oder aus weniger entschuldbaren Gründen verschlafen wurden, gefallen sich die betroffenen Landespolitiker in billiger Apologetik und die Kritiker in der wohlfeilen Pose. Dass dieser Widerspruch gefährlich werden kann, scheint vor allem Oskar Lafontaine zu ahnen. „Unterscheidbar und glaubwürdig“ sind seit Monaten die Attribute, die er von einer vereinten Linken fordert. Auch in Halle betont er die Abgrenzung vom Rest der Parteien: keine völkerrechtswidrigen Kriege und innenpolitisch ein klarer Oppositionskurs.
Jenseits der großen Namen und scharfen Kontroversen ist jeder PDS-Parteitag stets auch ein Familienfest. Bisweilen skurril, wenn ein leicht verwirrter Rentner Lothar Bisky als sein Vorbild preist. Manchmal pathetisch, wenn „noch ganz erfüllt von der erlebten Schwesterlichkeit“ vom Frauenplenum berichtet wird. Mitunter sophistisch, wenn Klaus Höpcke – zu DDR-Zeiten der Herr der Bücher – die Begriffe der Freiheit und der Gleichheit wägt: „Soviel Ideologie muss sein“. Das frühere Kardinalthema, die Verwerfungen der ostdeutschen Entwicklung, fehlt fast ganz. Umso präsenter ist die soziale Lage des unteren Viertels der ganzen Republik. Insofern hat die PDS schon ein bisschen die anstehende Vereinigung vorweg genommen. Dazu passt auch die beschlossene Mindestlohn-Kampagne (acht Euro pro Stunde), die im kollektiven Geist – getragen von PDS, WASG und Gewerkschaften in Ost und West – erfolgreich werden könnte.