Hartz-Gesetze: Die rot-grüne „Vision“ hat ihre Vollendung gefunden
„Wo wäre heute Jesus Christus? Bei Attac oder bei der CDU?“ Einen kleinen Moment zögerte Heiner Geißler in der NDR-Talkrunde III nach Neun, meinte dann aber unmissverständlich: „Natürlich bei Attac.“ Wo wäre heute August Bebel, wenn er den grandiosen Rollback der Sozialdemokratie erleben würde? Wo wären all die anderen Ahnherren und -damen, die in der Vergangenheit synonym für den Begriff Gerechtigkeit standen? Welchem prominenten Sozialdemokraten und Grünen könnte man solche Fragen überhaupt noch stellen, ohne ein mitleidiges Lächeln zu ernten?
Dass kaum noch jemand aus der aktiven politischen Klasse wagt, moralische Bedenken zu äußern und ethische Standards zu verteidigen, zeigt im Moment vielleicht mehr als alles andere, wie radikal sich die Bundesrepublik wandelt. Selbst die Hinterbänkler, die nun beim Kleingedruckten ihr Gewissen beruhigen, schweigen zur Generallinie der Partei- und Staatsführung. Wenigstens Otmar Schreiner könnte doch laut und deutlich sagen: Noch vor wenigen Jahren hätte sich die FDP nicht getraut, das vorzuschlagen, was nun zu zwei weiteren Hartz-Gesetzen werden soll.
Jenseits von Moral und Ethik hätte man aus den Fraktionen der SPD und der Grünen zumindest Fragen nach der Logik der Regierungspolitik erwarten dürfen. Wenn die Wissensgesellschaft unsere Zukunft ist und damit der Staat zwangsläufig zum größten Investor wird, weil nur er langfristig und massenhaft für Bildung und Forschung sorgen kann – weshalb werden dann mit Steuergeschenken an Unternehmen und Betuchte die öffentlichen Kassen geplündert? Wenn die sozialen Sicherungssysteme stabilisiert werden sollen – weshalb werden nicht schon jetzt sämtliche Bürger und Einkommensarten in die Pflicht genommen? Wenn künftig der Anteil der Erwerbsfähigen an der Bevölkerung sinkt – weshalb werden den jüngeren Generationen, denen die Last der demografischen Zeitenwende zufällt, nicht alle nur denkbaren Entwicklungschancen geboten? Und wenn im Lande insgesamt sieben Millionen Arbeitsplätze fehlen – warum verweigert die Bundesregierung jeden Ansatz einer Beschäftigungspolitik, die für jene Jobs sorgen müsste, die dann auch zu vermitteln wären?
Unbehelligt von solchen Einwänden und ohne jeden Zwang, ihren Kurs vor der eigenen Partei rechtfertigen und korrigieren zu müssen, begeben sich Schröder, Müntefering und Clement in einen politischen Wettbewerb, in dem nicht die Grünen, aber die Sozialdemokraten untergehen werden. Wer seine ökonomische Diagnose darauf reduziert, dass die Arbeit verbilligt und das Kapital entlastet werden muss, landet immer wieder bei Therapien, die bei einem Vabanque-Spiel gleichen. Vielleicht wird das Kapital im Lande wieder etwas mehr investieren. Vielleicht wird der Export doch ein wenig für Wachstum sorgen. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass die seit drei Jahren anhaltende Stagnation in einen deflationären Zirkel mündet, indem die Einkommen sinken und die Zukunftserwartungen von Konsumenten und Produzenten noch weiter schwinden.
Nach den Exzessen der Steuersenkung für Kapitalgesellschaften in der ersten rot-grünen Legislaturperiode, nach den permanenten Kürzungen und Streichungen bei der sozialen Sicherung hat die rot-grüne „Vision“ in den beiden neuen Hartz-Gesetzen die bislang noch fehlende Ergänzung gefunden. So sinnvoll die Umgestaltung der Bundesanstalt für Arbeit auch ist – der entscheidende Effekt wird nicht die Veränderung der Vermittlungspraxis sein, sondern die Verwandlung von Arbeitslosen in schutzlose und preiswerte Objekte, den alles zugemutet werden darf, wenn denn der Markt für sie noch eine Verwendung findet.
Die „Abweichler“ hätten sich die Erfahrungen von Hartz I und II genauer vor Augen führen sollen. Nach offiziellen Angaben aus Nürnberg ist der Entzug von Arbeitslosengeld drastisch gestiegen. Bis Jahresmitte 2003 wurden knapp 60.000 Sperrzeiten verhängt, mit denen fehlerhafte oder nicht fristgemäße Meldungen beim Arbeitsamt geahndet werden – im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von 35.000. Während die Zahl der offenen Stellen erheblich gesunken ist, dürfen die Vermittler, die nichts zu vermitteln haben, schon mal die Folterinstrumente testen. Der Fluchtpunkt solcher „Jahrhundertreformen“ ist kaum noch zu verbergen. Der Arbeitsmarkt muss wieder das werden, was er vor mehr als 100 Jahren schon mal war: Ein ganz gewöhnlicher Markt, auf dem nur noch – wie bei Bananen – Angebot und Nachfrage zählen.