Die Linke und die Demographie: Wie kann eine alternde, schrumpfende Bevölkerung in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft auf humane Weise leben?
Berlin im Jahre 2100: Von einstmals 3,3 Millionen Einwohnern ist die Stadt auf 690.000 geschrumpft. Ausflüge ins Umland werden zu archäologischen Expeditionen, Rentner entdecken bizarre Reste von Dörfern und Kleinstädten, die wenigen Kinder, die es noch gibt, finden phantastische Abenteuerspielplätze. In ganz Deutschland leben statt 82 nur noch 24 Millionen Menschen, der Osten mutiert zu einer renaturierten Zone.
Diese unglaublichen Szenarien würden sich ergeben, wenn man – dem Bielefelder Demographen Herwig Birg folgend – mit drei Annahmen die Zukunft projiziert: die Geburtenzahl bleibt so niedrig wie sie heute ist (1,3 Kinder pro Frau), die Lebenserwartung steigt im laufenden Jahrhundert um weitere fünf Jahre, Zuwanderung und Abwanderung gleichen sich aus. Wenn also die gegenwärtigen Trends des Gebärens und Sterbens anhielten und es keinen Einwandererüberschuss gäbe, würde dieses Land in 100 Jahren zu der Bevölkerungszahl zurückkehren, die es zu Beginn der Industrialisierung schon einmal hatte. Und die Bundesrepublik wäre keine Ausnahme. Abgesehen von Frankreich, Großbritannien, Irland und Skandinavien, die etwas höhere Geburtenzahlen aufweisen und damit etwas langsamer schrumpfen und altern, sehen alle europäischen Länder einer ähnlichen Zukunft entgegen.
Bei anhaltender Zuwanderung dürfte sich diese Entwicklung im reicheren Westen des Kontinents etwas langsamer vollziehen. Ändert man beispielsweise für die Bundesrepublik die dritte Variable der Bevölkerungsprojektion und setzt den Durchschnitt der vergangenen Jahrzehnte (jährliche Nettozuwanderung: 170.000 ) in das Rechenmodell ein, ergibt sich für ganz Deutschland ein Wert von 68 Millionen Einwohnern im Jahre 2050 und 46,1 Millionen am Ende des Jahrhunderts, davon etwa die Hälfte mit Migrationshintergrund. In Ostdeutschland würden statt heute 15 Millionen nur noch elf Millionen (2050) beziehungsweise sechs Millionen Menschen (2100) leben.
Die zu erwartenden Alterspyramiden wird die Einwanderung insgesamt kaum ändern. Wenn sie quantitativ und in ihrer sozialen Struktur so bliebe wie sie gegenwärtig ist, würde der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung trotzdem von 17,9 Prozent (1998) auf knapp 30 Prozent im Zeitraum 2030 bis 2050 steigen. Einwanderung kann also die Folgen der demographischen Zeitenwende, die im 21. Jahrhundert bevorsteht, nur hinauszögern, aber nicht grundsätzlich ändern.
Mancher, der die deutsche Geschichte allein im Lichte von Auschwitz liest und bei jeder passenden Gelegenheit „Nie wieder Deutschland“ skandiert, wird jubeln. Das Volk der Täter schrumpft auf ein Maß, das nicht mehr gefährlich werden kann – Impotenz mangels Masse. Der passende konkret-Titel würde lauten: „Freiwilliger Abgang – endlich sterben die Deutschen aus.“ Wem der Lehnstuhl-Zynismus Hamburger Redaktionsstuben nicht gefällt, mag auf andere Weise Hoffnung schöpfen. Dieses immer noch viel zu muffige Land muss sich, ob es will oder nicht, fremden Kulturen öffnen und Zuwanderer willkommen heißen. In diesem Sinne wäre die demographische Verlegenheit eine historische Chance, um mit den letzten Resten von Deutschfrömmelei und nationaler Borniertheit aufzuräumen. Und ist nicht eine abnehmende Bevölkerungsdichte ein Geschenk des Himmels, um Umweltgefährdungen zu verringern?
So berechtigt solche Einwände gegen die herrschende Demographiedebatte auch sein mögen, so wenig erfassen sie die eigentliche Herausforderung: Wie kann eine alternde, schrumpfende Bevölkerung in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft auf humane Weise leben? Dass diese Frage fast nirgends in linken Diskursen auch nur gestellt wird, ist angesichts der faschistischen Vergangenheit und der neoliberalen Gegenwart verständlich. Damals wurde die Demographie für barbarische Verbrechen instrumentalisiert, heute wird die Keule der auf dem Kopf stehenden Alterspyramiden geschwungen, um die Umverteilung von unten nach oben und die Privatisierung von Lebensrisiken zu rechtfertigen. Aber ist Generationengerechtigkeit tatsächlich nur ein Kampfbegriff, nur eine Verpackung, um Angriffe auf den Sozialstaat verkaufen zu können?
Selbstverständlich kann man die Annahmen, die den Prognosen zugrunde liegen, als rein theoretisches Konstrukt ablehnen. Vielleicht wird die Geburtenziffer irgendwann wieder ein Niveau erreichen, das Demographen mit dem schauderhaften Adjektiv „bestandserhaltend“ bezeichnen, auch wenn bislang nichts darauf hin deutet. Kaum auszuschließen ist dagegen, dass künftig mit nüchtern-geschäftsmäßiger Begründung Selektion betrieben wird. Was wir heute schon über Hüftgelenke und Altersgrenzen der Versorgung hören, wäre dann nur der Vorgeschmack auf einen radikalen Wertewandel, der nicht die Würde, sondern die Produktivität des Menschen zum obersten Verfassungsgebot erklärt. Wer am Gehalt demographischer Prognosen zweifelt, könnte auch auf Gentechnologie und Medizintechnik hinweisen, die vielleicht irgendwann Möglichkeiten bieten, die heute noch niemand ahnt. Und erst recht wäre das Argument berechtigt, dass die politische und wirtschaftliche Entwicklung des 21. Jahrhunderts sich jeder Vorhersage entzieht.
Dennoch wäre diese skeptische Haltung gegenüber demographischen Prognosen kaum zu rechtfertigen. Im Unterschied zu allen anderen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Zukunftsprojektionen haben sich Berechnungen der Bevölkerungsentwicklung bereits in der Vergangenheit als erstaunlich treffsicher erwiesen. Ein Beispiel ist die Schätzung der Vereinten Nationen von 1958. Damals wurde für das Jahr 2000 eine Weltbevölkerung von 6,267 Milliarden prognostiziert, die dem tatsächlich erreichten Wert von 6,1 Milliarden erstaunlich genau entspricht. Auch wenn die Unsicherheit von Schätzungen mit dem Prognosezeitraum steigt, werden zumindest die Vorhersagen für die kommenden 20 bis 30 Jahre mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich eintreffen. Denn die Basistrends, die mit Simulationsmodellen in die Zukunft verlängert werden, sind seit langem sehr stabil. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat in Deutschland praktisch jeder Frauenjahrgang weniger Kinder als der jeweils vorangegangene, und der Anteil der zeitlebens kinderlos bleibenden Frauen an einem Jahrgang ist ebenso kontinuierlich gestiegen: von 10,6 Prozent (1940) auf 26,0 Prozent (1960). Die jüngeren Jahrgänge erreichen einen Wert von 30 bis 35 Prozent.
Zunächst geringeres Wachstum, dann Stagnation, schließlich Schrumpfen der Bevölkerung und historisch bislang nicht gekannte Alterspyramiden sind das nackte statistische Ergebnis, über dessen Folgen jenseits aller moralischen Wertung nachzudenken ist. Denn eine Gesellschaft, die mit ihrem Wirtschaftsmodell und ihrem Sozialstaat auf Wachstum programmiert ist, wird sich so oder so dramatisch wandeln müssen. Eine Diskussion, die sich bislang nur mit Beitragssätzen, Vorsorgezwang und Renteneintrittsalter, also letztlich nur mit der Veränderung von Geldflüssen zwischen und innerhalb der Generationen beschäftigt, ist schon jetzt nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Noch absurder ist es, von einer weiteren Flexibilisierung der Arbeitsmärkte Entlastung zu erwarten. Wer die Mechanismen der Konkurrenzgesellschaft auf die Spitze treibt, verfehlt nicht nur die Bedürfnisse einer alternden Bevölkerung, sondern zerstört unweigerlich die Schutzräume und Planungshorizonte, die jeder braucht, der Kinder will.
Statt die zu erwartende demographische Entwicklung zu ignorieren oder nur defensiv zu reagieren, hätten Linke in Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, allen Grund, offensiv in die Debatte einzugreifen. Denn wenn man das Altern und Schrumpfen als Problem tatsächlich ernst nimmt, kommt man sehr schnell zu der Schlussfolgerung, dass eine Politik, die auf mehr soziale Gleichheit und mehr individuelle Freiheit setzt, angemessener ist als eine Strategie der Ungleichheit und des Marktzwangs. Und eine solche alternative Politik würde berücksichtigen, dass eine Gesellschaft als Ganzes nicht finanziell, sondern nur materiell Vorsorge treffen kann. Nicht wechselseitige Zahlungsansprüche sichern die Zukunft, sondern gebildete Menschen mit ihren Infrastrukturen und Produktionsmitteln.
Warum, so müsste die Linke als Erstes fordern, werden nicht schon heute allen Kindern und Jugendlichen – unabhängig von der finanziellen Situation ihrer Eltern – optimale Entwicklungschancen geboten, wenn sie es doch sind, die in den kommenden Jahrzehnten die Hauptlast der demographischen Zeitenwende zu tragen haben. Ebenso wäre schon jetzt alles zu tun, damit die Kombination von einerseits hoher Arbeitslosigkeit und andererseits massenhafter Überarbeitung beziehungsweise erzwungener Flexibilisierung einem neuen Normalarbeitsverhältnis weicht, bei dem sich niemand vor Veränderungen fürchten muss, weil alle einen gesicherten Zugang zu Erwerbsarbeit haben. Unter diesen Voraussetzungen – umfassende Bildung der jüngeren und Vollbeschäftigung der erwerbstätigen Generation – würde ein verschobenes Renteneintrittsalter jede Brisanz verlieren und könnte als tatsächlicher Sachzwang akzeptiert werden.
Die Hardware menschlicher Betätigung – Fabriken, Büros, Wohnungen, Konsumgegenstände und öffentliche Infrastrukturen – den Erfordernissen der demographischen Wende anzupassen, wäre die zweite Forderung, die dem herrschenden Alarmismus entgegen zu stellen wäre. Eine Gesellschaft, die über dauerhaft einsetzbare, verschleissarme, energiesparende und für verschiedene Zwecke verwendbare Produkte und Produktionsmittel verfügt, könnte auch dann noch gut funktionieren, wenn sich die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter deutlich verringert. Eine alternative „Agenda 2020“ sollte den Abschied vom Öl und eine technologische Revolution fordern, die sich am Primat der Nachhaltigkeit orientiert. Die öffentlichen Investitionen müssten mit gutem Beispiel vorangehen und schon jetzt auf unsinnige Projekte verzichten. Denn die sechsspurigen Autobahnen von heute sind die Investitionsruinen von morgen.
Den Vorwurf, einer naiven Utopie anzuhängen, könnte man leicht kontern. Denn was geboten wäre, wird vom deutschen Polit-Establishment noch nicht einmal als Aufgabe erkannt. Statt in Humankapital und nachhaltiges Sachkapital zu investieren, wird die Zukunft auf dem Altar der Vergangenheit geopfert. Wer den Schuldendienst zum Maß der Politik erklärt und sich ständig dem Renditeanspruch privater Unternehmen beugt, hat von den Herausforderungen, die uns bevorstehen, noch nichts begriffen.