Ökologische Revolution jenseits von Technik und Moral – Sattes Grün verlangt kräftiges Rot
Wer in einer endlichen Welt an immerwährendes Wachstum glaubt, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom. Dieser freche und weise Spruch ist 40 Jahre alt. Damals waren fast alle verrückt. Heute sind die Ökonomen übrig geblieben. Und mit ihnen die Analysten, die Werbestrategen und nahezu das gesamte politische Personal.
Jenseits dieser dummdreisten Zirkel mit optimistisch aufgehellter Verantwortungsmiene ist das anders. Die Zahl der Wachstumsgläubigen schrumpft. Klimagase, Industriegifte und Konsummüll verstopfen die Arterien einer endlichen Welt. Die Verwandlung von Flüssen in Transporttrassen ist falsch. „Wir“ erleben es gerade. „Wir“ wissen all das schon lange. Und „wir“ haben eine andere Vision.
Atomkraft und Kohlestrom sind Geschichte. Sonne, Wind, neue Speicher und intelligente Netze schaffen es allein. In den Innenstädten gibt es kaum noch Autos. Bahnen und Busse fahren öffentlich finanziert und Taxis zum Super-Spar-Tarif. Mit dem Flugzeug zu fliegen und Fleisch zu essen, ist im Begriff, uncool zu werden. Die Industrie macht Dinge, die jahrelang halten und leicht zu reparieren sind. Werbung und Mode sterben dahin. Kaum jemand regt sich auf. Alles Falsche schrumpft mit hohem Tempo. Und die Wirtschaft, die früher nur mit permanentem Wachstum funktionierte, bricht nicht zusammen.
„Wir“ haben uns anders entschieden, unser Leben selbst in die Hand genommen. Arbeitslos ist niemand mehr, der Sechs-Stunden-Tag die neue Norm. Weniger Arbeit heißt mehr Freiheit. So soll es sein. Aktienkurse sind unbekannt, Hedgefonds nur noch ein Kapitel der Kriminalgeschichte. Unternehmen gehören den Produzenten. Wem denn sonst, fragen „wir“ uns. Wissen und Kultur gelten als öffentliches Gut, der Geist ist frei. Vor Ort sorgt die Kommune für ein gutes Leben. Alles Öffentliche ist kompromisslos öffentlich geworden. Für wichtige Themen gibt es stets den Volksentscheid.
Geht das? Ist eine solche Wandlung hin zur Vernunft, zur Mäßigung, zum in jeder Hinsicht gleichen Recht möglich? Ja, es geht. Beispiele zeigen es. Projekte des intelligenten Maßes, der egalitären Ökologie gibt es weltweit. Aber wie kommen sie zusammen? Wann bilden sie eine kritische Masse, die nicht nur vereinzelt, sondern gesellschaftlich das von der Natur Gebotene und das von uns Gewünschte Wirklichkeit werden lässt? Wie werden Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur in Worten, sondern auch in Taten, nicht nur im Design, sondern auch in der Substanz, nicht nur im Einzelnen, sondern auch systematisch naturverträglich?
Bislang mangelt es an der Fähigkeit, Leitideen zu entwickeln, die eine für das ökologische Zeitalter passende Eingriffstiefe formulieren. Aus diesem Mangel folgt die Dominanz der Soziotechniker, der appellierenden Moralisten und der Rebellen in radikaler Pose. Schrauben drehen, Messen singen und Fäuste schwingen – das sind die üblichen Haltungen. So versackt die ökologische Revolution entweder im Äußeren, in der Technik, oder tief im Innern des Einzelnen oder – das ist die dritte Variante – im großen und unbekannten Anderen. So bleibt das Thema, um das es doch vorrangig gehen müsste, unbeachtet: die Gesellschaft selbst als der Gegenstand, den es hinsichtlich seiner notwendigen Veränderungen zu erkennen und zu bearbeiten gilt.
Wenn es um alles geht, kann nichts heilig sein. Wenn nichts heilig ist, gehört alles auf den Prüfstand. Wenn alles geprüft ist, wird der Korrekturbedarf deutlich. Um mit Aussicht auf Erfolg korrigieren zu können, müssen Keime des Richtigen schon da sein. Das wachsende Richtige zu erkennen, zu stärken, miteinander zu verbinden und zu systematisieren – das wäre die Kunst eines radikalen, an die Wurzel gehenden Realismus, den man auch umgekehrt realistischen Radikalismus nennen kann, weil er mit nüchternem Blick die Grundprobleme anvisiert.
Wenn die Weltgesellschaft ökologisch zu scheitern droht, dann kann in der Tat nichts heilig sein. Keine Wirtschaftsordnung, kein Eigentumstitel, keine Verfassung. Alles, was die Verhältnisse zwischen den Menschen, zwischen Gruppen, Klassen und Nationen regelt, gehört auf den Seziertisch. Und „wir“ müssen die große Preisfrage beantworten, ob es Signale der Hoffnung gibt, die sich wechselseitig verstärken und eine andere Art wirtschaftlicher Entwicklung ergeben könnten.
Tatsächlich passiert einiges. Nicht nur in den beispielhaften Einzelfällen, sondern auch im normativen Hintergrundrauschen. Kooperation, Gleichheit und Planung sind im Begriff, neue Leitprinzipien zu werden. In der dinglichen und geistigen Produktion sind Tendenzen aufzuspüren, die zu diesen Leitprinzipien passen, wenn man sie aus ihrer profitwirtschaftlichen Umklammerung befreit. Wer sucht, der findet stille Revolutionen an vielen Orten.
Diese Signale der Hoffnung lassen sich zu einem neuen Modell einer grünen und gerechten Wirtschaft verbinden. Vor dem geistigen Auge erscheint dann eine vom Willen des Gemeinwesens gelenkte, vom Wachstumszwang befreite, durchgehend ökologische Wirtschaft, die das Thema soziale Sicherheit nicht mehr kennt, weil sie Freiheit in Gleichheit verwirklicht.
Die Utopie, die darin liegt, ist keine Willkür, wenn „wir“ uns vorstellen, dass „wir“ nicht nur Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten, sondern die Grundstrukturen von Wirtschaft und Gesellschaft zu wählen haben und der Mehrheitswille verbindlich ist. Die Demokratie gilt. Der Souverän ist souverän. Das ist der Sprung, der nötig und möglich ist.
Hier könnte nun die Stunde einer grünen Linken schlagen, einer Linken, die sich ihrer Machtferne nicht grämt, weil sie die Stärke zukunftsgewandter Ideen auf ihrer Seite weiß. Eine solche Linke gibt es in Gestalt eines bunten Schillerns Hunderter kleiner Organisationen und Projekte und einiger Intellektueller. Aber als politische Strömung gibt es sie leider nicht.
Der geistige Kern der meisten Linken – ob in Gewerkschaften, Sozialverbänden oder in der Partei gleichen Namens – ist immer noch die alte Vorstellung einer zunächst sozial gestalteten und später in gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmenden Wirtschaftsmaschinerie, die mit voller Last zu fahren ist, um ihr Produkt zu maximieren.
Um diesen alten Gedanken der Arbeiterbewegung kreisen mittlerweile viele Satelliten moderner Programmatik wie demokratische Partizipation, Energie- und Verkehrswende. Es mangelt nicht an Angeboten im zeitgeistig basisdemokratischen Ökodesign. DIE LINKE hat sogar ein Parteiprogramm, das über weite Strecken den Geist egalitär-ökologischer Erneuerung atmet.
Aber in den Köpfen sowohl der Mitgliedschaft als auch der Funktionsträger ist das ökologische Zeitalter noch nicht wirklich angekommen. Man ist dabei auf der dampfenden Titanic und bildet dort die Vereinigung kritischer Passagiere. Weniger Kronleuchter und bessere Mannschaftsdecks! Rettungsboote für alle! Beobachtungsposten rund um die Uhr doppelt besetzen! Das sind die Forderungen. Und manchmal ist auch noch zu hören: »Die Reederei gehört in Besatzungshand!« Aber niemand aus der Sprecherriege der kritischen Passagiere spricht aus, was heute auch zu sagen wäre: »Wir sind auf dem falschen Dampfer!«
Noch immer betrachten die meisten Linken den nötigen Systemwechsel nur gesellschaftlich, nicht im Verhältnis zur Natur. Die ökologischen Herausforderungen strukturieren aber alles neu, setzen neue Maßstäbe für jegliches politische Handeln. Das gilt auch für Marxisten und Sozialisten. Bislang gingen sie davon aus, dass das Recht auf maximale Naturaneignung „irgendwann“ sozialistische Verhältnisse erfordere, weil „irgendwann“ die bornierten bürgerlichen Formen nicht mehr passen.
Angesichts der ökologischen Herausforderungen ist der Zug zum Sozialismus aber nicht aus maximaler Naturaneignung zu begründen, sondern aus der nötigen Pflicht zur Naturerhaltung. Das klingt für manchen Marx-Jünger alter Schule wie eine Zumutung. Das hat den finster-bornierten Beigeschmack von netter Gemeinschaft beim kollektiven Anbau von Bioradieschen. Wer sich auf diese kleinkarierte Weise abgrenzt, wird kaum erkennen, dass die Gefährdungen der Natur letztlich nur im linken Geist – mit Kooperation, Gleichheit und Planung – zu bewältigen sind.
Den großen Eigentumstiteln den Salut zu verweigern, wird mit ökologischen Begründungen besser und schlagkräftiger gelingen. Und umgekehrt gilt genauso: Wenn der Umbau unserer Produktionsweise friedlich und auf demokratische Weise gelingen soll, dann geht das nur mit Antworten im linken Geist. Damit solche Antworten Gehör finden, müssen Sozialistinnen und Sozialisten die »ökologische Sprache« sprechen.
Solange das nicht geschieht, ist es nicht verwunderlich, dass die Linke das massenhafte Unbehagen nicht mit dem Bild einer anderen Zukunft verbinden kann. Stattdessen gibt es ein permanentes Schwanken zwischen Anklage und zögerlichem Mitspielen im Getriebe – bisweilen wohl auch eine Mischung von beidem, wenn so mancher beim Singen roter Lieder letztlich doch nur von roten Teppichen träumt.
Die Linke ist derzeit ohne Strahlkraft, weil sie nicht verstanden hat, dass das gesamte sozialistische Erbe nur noch dann einen Sinn hat und nur dann neue Kraft entfalten kann, wenn es im Angesicht ökologischer Grenzen neu buchstabiert wird. Dieser Zusammenhang ist bislang an vielen Sozialistinnen und Sozialisten ohne Notiz und Spur vorüber gezogen. Das ist befremdlich, bedauerlich, im Grunde unverzeihlich. Denn ohne linke Beiträge von Gewicht, ohne einen auf die Höhe der Zeit weiter entwickelten Marx, ohne die klare Erkenntnis der Geschichtlichkeit und damit Vergänglichkeit der bürgerlichen Verkehrsformen bleiben die überfälligen ökologischen Veränderungen unnötig zahm und den heutigen Institutionen ausgeliefert, weil der Gedanke an ein anderes System ökonomischer Reproduktion gestorben ist. Sattes Grün funktioniert aber nur in kräftigem Rot.
Mehr zu grünen Szenarien, trügerischen Erwartungen, Signalen der Hoffnung, zum Modellwechsel und zu neuen Geschichten in: Hans Thie. Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft. VSA-Verlag 2013. Soeben im Buchhandel erschienen und zum Download bereit: www.rosalux.de/publication/39552
erschienen in: Neues Deutschland 15./16. Juni 2013