September 2014
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Besonders verlockend waren die Weltprobleme vor ein paar Tagen für mich. Ich bekam eine Einladung nach New York zu einem kleinen Klimagegengipfel und anschließend auch noch nach Victoria an der kanadischen Westküste, um über „The German Energiewende“ zu referieren. Solche E-Mails kommen nicht alle Tage. Freunde und Familie waren begeistert: „Toll, musst du machen!“ Aber sollte ich? Mit Kerosin getränkter Aktivismus statt weitere Reduktion meines persönlichen Kohlendioxid- und Ressourcenbudgets? Also habe ich abgesagt. Das hat weh getan, war aber unvermeidbar.

Manchmal ist es anstrengend, den betörenden Sirenen einer falschen Lebensweise zu widerstehen. Noch schwieriger wird es, wenn der gute Zweck die dreckigen Flugmeilen zu heiligen scheint. Aber: Schluss mit den billigen Ausreden, hatte ich mir schließlich vor einiger Zeit geschworen. Der ökologische Imperativ verlangt Integrität, persönlich und politisch. Lustlos muss diese Einsicht nicht bleiben – vor allem dann nicht, wenn man diejenigen kennen lernt, die sich eine bunte Inselwelt jenseits idiotischer System- und Wachstumszwänge geschaffen haben.

Seit Dienstag treffen sich rund 3.000 dieser Insulaner und ihrer Sympathisanten zur Generalversammlung in Leipzig. “Degrowth“ heißt das Motto, das sich einer deutschen Übersetzung entzieht und als Schrumpfung, Reduktion oder Entwachstum nur sperrig und unangemessen gefasst werden könnte. Raus aus den Wachstumszwängen, hinein in ein anderes Leben – darum geht es bei der internationalen Konferenz. Wie schon 1968 und später in der Alternativ-Bewegung der achtziger Jahre stehen nicht nur die äußeren Strukturen der Macht und der Zerstörung auf der Agenda, sondern auch unsere innere Unkultur und Unfreiheit. Wer die Welt retten will, darf sein Ego nicht schonen. Wer jenseits der kapitalistischen Wachstumsmaschinerie ankommen will, befreie sich schon jetzt von unnötigem Konsumballast.

Diese Doppelstrategie klingt in den Ohren der traditionell konfigurierten Linken und der technikeuphorischen Grünen wie fauler Zauber. Die einen prangern nur das Ungleichheiten produzierende System an und ignorieren die ökologischen Lasten. Die anderen haben sich im Getriebe von Lohn, Preis und Profit behaglich eingerichtet und streben nach grünem Wachstum. Und beide krönen ihre Borniertheit, indem sie über all das schweigen, was in den reichen Nationen drastisch und schnell schrumpfen muss.

Wie aber wird eine Postwachstumsökonomie denkbar und machbar? Wie kann sie die Nischen verlassen und Terrain erobern? An das reduktionsfähige Individuum zu appellieren, ist notwendig, aber offenkundig nicht hinreichend. Die Macht, sich vom Ballast zu befreien, haben die Einkommensprivilegierten, eher auch die Gebildeten und Ungebundenen. Sie haben das Eintrittsticket zum Club der Weltenretter schnell bei der Hand. Nicht-Shoppen, Nicht-Fliegen, Bio-Essen – all das kann relativ leicht in den Alltag einziehen und anschließend das Prestige in der jeweiligen Community heben, wenn die Freiheit zum Weniger und zum Anders eine gewisse Größe hat.

Was aber machen Alleinerziehende, Arbeitslose, Niedrigverdienerinnen, Schmalspurrentner und Durchschnittsfamilien in den teuren Metropolen? Miete, Strom, Heizung, Fahrten zur Arbeit sowie der Bedarf an Kleidung und allerlei Gerät sind nur in engen Grenzen zu beeinflussen. Ein beträchtlicher Teil der Lebenskosten ist fix und nicht rein individuell, sondern eher gesellschaftlich bestimmt. Vom Einkommenswachstum sind Millionen Menschen in Deutschland und Europa schon seit Jahren abgekoppelt. Für sie ist das finanzielle Weniger in keiner Weise ein qualitatives Mehr, sondern echte Bedrängnis. Wie also soll die untere Hälfte der Gesellschaft den Sinn der Wachstumskritik entdecken, wenn „Befreiung vom Überfluss“ nur wie eine Selbsterkenntnis verwöhnter Milieus klingt?

Postwachstumsökonomie kann jenseits der Projektpioniere und der einsichtigen Privilegierten nur dann zu einem starken Leitbild werden, wenn sie die Freiheit, ein anderes, selbstbestimmtes und ressourcenleichtes Leben zu führen, zu vergesellschaften versucht. Der individuelle Wachstumsverrat kann stärker und politischer werden, wenn er aufnimmt, was als mehrheitliches Verlangen schon da ist: existenzielle Not abschaffen, Ungleichheit drastisch reduzieren, den Basisbedarf verlässlich regeln, die Gemeinwirtschaft mit einem kräftigen Schuss direkter Demokratie ausbauen. All das passt gut zusammen und könnte sich den großen ökologischen Effekten zuwenden, die vor allem im Systemischen liegen: autofreie Innenstädte, genossenschaftliches und kollektives Wohnen, Energieautonomie mit Wind und Sonne, regionale Agrarkreisläufe, kompetentes Handwerks statt Wegwerfen und Neukaufen.

Wenn solche Signale der Hoffnung stärker werden, erscheint vor dem geistigen Auge eine vom Willen des Gemeinwesens gelenkte, vom Wachstumszwang befreite, durchgehend ökologische Wirtschaft, die das Thema soziale Sicherheit nicht mehr kennt, weil sie Freiheit in Gleichheit verwirklicht. Die Utopie, die darin liegt, ist keine Willkür, wenn man sich vorstellt, dass die Bevölkerung nicht nur Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten, sondern auch Wirtschaftsstrukturen und Eigentumsverhältnisse zu wählen hätte und der Mehrheitswille verbindlich wäre. Die Demokratie gilt. Der Souverän ist souverän. Das ist der Sprung, der nötig und möglich ist.

Die Zeit reift für utopischen Elan, der in die Praxis drängt. Angesichts des moralischen Verfalls herrschender, zunehmend kriegsbereiter Eliten sollte dieses Bemühen ernsthafter und konsequenter werden. Vielleicht gelingt es dann, Pioniere und soziale Bewegungen miteinander in Beziehung zu bringen, die bislang nichts miteinander zu tun hatten. Vielfältig würde sie sein und doch mit einem gemeinsamen Kern – eine Bewegung der Bewegungen.

Erschienen in: „der Freitag“ vom 4. September 2014