In seinem Buch «Grüne Lügen» beklagt Friedrich Schmidt-Bleek die Rucksäcke. Nicht die allgegenwärtigen Tragemittel sind gemeint – das Urgestein der Umweltforschung hat vielmehr den Naturverbrauch im Blick, der vor der Inbetriebnahme aller Produkte entsteht und somit auch das ökologische Konto vorgeblich grüner Güter belastet.
Beispiel Elektromobilität: Allein die Gewinnung all der zusätzlichen Metalle, insbesondere Kupfer, die im E-Mobil verarbeitet sind, neutralisiert einen beträchtlichen Teil der später während der Betriebsphase eingesparten Treibstoffmasse. Allgemeiner formuliert: Die Gesamtheit der Stoffe und Energien, die von der Rohstoffentnahme bis zur Schrottverwertung anfallen (und abfallen), sind mit dem Nutzen ins Verhältnis zu setzen, der beim Gebrauch entsteht. Ein 40 Jahre alter Schluckspecht namens VW-Bully kann aufgrund extrem hoher Fahrleistung und bei kollektiver Nutzung ein Super-Öko-Auto sein.
Bisherige Umweltpolitik sei vor allem Gesundheitspolitik für die reichen Länder, meint Schmidt-Bleek. Weniger Emissionen beim Gebrauch grüner Produkte und beim Betrieb schadstoffärmerer Produktionsanlagen im Norden, aber riesige Rucksäcke des Naturverbrauchs im Süden – den Zusammenhang nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen, sei die große grüne Lüge. Die Attacke ist wohl gesetzt. Die Landkarten Lateinamerikas und Afrikas zeigen immer mehr verwüstete Gebiete, in denen täglich Kilotonnen bewegt werden, um die wertvollen Stoffe zu fördern, die bei uns in das scheinbar öko-effiziente Produktdesign fließen.
Könnte das Konzept grünen Wachstums aufgehen, wenn die gesamte Wertschöpfungskette naturverträglich wird, wenn von der Wiege der Rohstoffentnahme über die Produktion und den Gebrauch bis hin zur Bahre der Reststoffverwertung das stoffliche Weniger regiert? Das wäre die allseits gesuchte Rettungsformel für die Verträglichkeit anhaltenden Wachstums. Und die bekannten Stichworte sind schnell bei der Hand: geschlossene Stoffkreisläufe, Ganzpflanzennutzung, Mehrfachverwendung, verlängerte Nutzungsdauer. Der Fluchtpunkt konsequenteren grünen Wirtschaftsdenkens heißt: Anschmiegen an das, was die Natur selbst macht, also Reproduktion ohne Abfälle und Schäden.
Ist dieses Anschmiegen machbar und ist es logisch begründbar, wenn es weiterhin wirtschaftswachsend geschehen soll? Zunächst dürfte klar sein, dass ein Nacheifern der Natur sehr starker und sehr intelligenter Politik bedarf. Denn alle besonders schmutzigen Aktivitäten müssten mit Verboten, Geboten, wahlweise auch Steuern und Abgaben, der Schrumpfung anheimfallen. Das ökologische Neue, das schmutziges Altes ersetzt, beispielsweise erneuerbare Energien statt Kohle, müsste in der Gesamtbilanz verbrauchsmindernd sein und in jedem Falle das Alte ersetzen und nicht einfach hinzukommen. Die Einkommen wiederum, die einerseits aus den Investitionen in eine ökologischere Produktionsweise und andererseits aus ihrem Betrieb resultieren, bedürften einer Verwendungslenkung. Der Gewinn des Handwerkers, der für meine Dämmung sorgt, und meine Heizkostenersparnis dürfen sich nicht in Billigflüge verwandeln, weil dann der ökologische Nettoeffekt eindeutig negativ ist.
Grünes Wachstum ist folglich eine Konzeption, die nur unter harten Restriktionen eine gewisse Logik hat. Und sie macht nur dann Sinn, wenn sie ein Rezept für den Übergang zum Nicht-Wachstum ist. Denn irgendwann werden die anvisierten Effizienz-, Nutzungs- und Naturanpassungsgewinne erschöpft sein. Spätestens dann wäre der Abschied vom Wachstum fällig. Reifen statt expandieren hieße die Maxime. Jede Vorstellung eines mit Wachstum verbundenen «Green New Deal» hat deshalb eine begrenzte Restlaufzeit.
Besser und dem Vorsichtsprinzip entsprechender ist dagegen schon heute die Trennung der entwickelten Weltregionen vom Wachstumszwang. Wer die herannahenden Ökogrenzen anerkennt und zusätzlich globale Gerechtigkeit verlangt, kann in einem Land wie der Bundesrepublik nur konsequenter Wachstumsgegner sein. Aber die Blockaden sind – wie wir alle wissen – nicht von Pappe, eher von Beton. Kapitalverwertung verlangt Wachstum. Die organisierte Lohnarbeit fordert Wachstum, weil Jobs von Renditen und damit vom Wachstum abhängig sind. Öffentliche Haushalte und Sozialsysteme sind auf Wachstum gepolt. Überall haben sich Systeme der Fremdversorgung herausgebildet, deren stabile Reproduktion den reibungslosen Lauf der Wirtschaftsmaschinerie braucht. Entsprechend ist auch mental die Fremdverantwortung – parallel die Zuweisung von Fremdschuld – eine mächtige Hürde für die Umkehr in den Köpfen. Last not least sind zunehmend individualisierte Lebensweisen kulturell verankerte Wachstumstreiber.
Wie ist dem zu entgehen? Wo sind zivilisierte Auswege aus der Wachstumsfalle zu finden? Welche attraktiven, wachstumsunabhängigen Visionen können vom wuseligen Rand der Gesellschaft ins Zentrum vorrücken? Wie wird der heute übliche passive Zynismus zu einer lächerlichen Haltung, die als peinlich empfunden wird? Das sind die eigentlichen Fragen, die des Schweißes der Edlen wert sind. Solange die Antworten ausbleiben, ist der grüne Reformismus – die Erneuerung der Technik, nicht der Gesellschaft – das strategische Projekt schlechthin. Gemäß dieser Leitidee darf grundsätzlich alles gleich bleiben, die Wirtschaftsordnung, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse – nur die Technologien nicht. Das ist der neue, auch konservative Kreise erobernde Common Sense. Wer daran kratzen will, muss die Notwendigkeit satten Grüns vollständig anerkennen und ein zeitgemäßes, kräftiges Rot empfehlen. Denn globale Ökologie geht nur mit mehr Kooperation, mehr Gleichheit, mehr Vorsorge und Planung.
Erschienen in: RosaLux. Journal der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2-2014: 19-20