Wie das Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und Kanada den Kultursektor bedroht. Von Jan-Erik Thie. Mai 2015
1. Einleitung
Die Verhandlungen über das geplante Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und Kanada wurden im August 2014 abgeschlossen. Unter dem Titel CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement), liegt ein Verhandlungsergebnis vor, das 1.634 Seiten umfasst und detailliert beschreibt, welche Wirtschaftsbereiche in welchem Umfang von dem Abkommen betroffen sind. Aktuell befindet sich CETA in der Phase des sogenannten „legal scrubbing“, in der Juristen beider Seiten den Vertragstext hinsichtlich seiner Rechtsförmlichkeit überprüfen. Eingehend auf die Kritik von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gewerkschaften an der Intransparenz der Verhandlungen hat die Europäische Kommission den CETA-Text am 26. September 2014 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Nach der in Freihandelsverträgen üblichen Präambel folgt zunächst das eigentliche Rahmenabkommen. In ihm werden sektorübergreifende Maßnahmen zu Investitionen, Subventionen oder auch grenzüberschreitenden Dienstleistungen definiert. Daran anschließend regelt der Vertragstext, welche besonderen Liberalisierungspflichten für einzelne Wirtschaftssektoren gelten, wie etwa Telekommunikation, E-Commerce, Finanzdienstleistungen, sanitäre und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen, internationale Seeverkehrsdienstleistungen und pharmazeutische Industrie.
Im Anhang des Vertragstextes sind umfangreiche Verpflichtungslisten aufgeführt, in denen sich beide Parteien Ausnahmen von den Liberalisierungsanforderungen vorbehalten. Diese sehr detailliert für einzelne Branchen und Länder definierten Ausnahmen wären nicht notwendig gewesen, wenn der CETA-Vertragstext nur positiv die Liberalisierungspflichten beider Seiten definieren würde. Anders als bei früheren Freihandelsverträgen wird in CETA jedoch der Negativlistenansatz angewendet. Das bedeutet: Wird ein Wirtschaftsbereich nicht explizit in den Ausnahmebestimmungen des Vertrages genannt, so ist er automatisch vom Freihandelsabkommen betroffen und den Liberalisierungsgeboten unterworfen.
In dieser Studie geht es um die Folgen des CETA-Abkommens für den Kultursektor. Zunächst ist die Frage zu beantworten, inwieweit kulturelle Aktivitäten überhaupt von den Bestimmungen des Vertragstextes betroffen sind. Beide Vertragsparteien haben wiederholt geäußert, dass die Kultur umfassend von Liberalisierungspflichten ausgenommen sein soll. Deshalb ist zu untersuchen, ob und wie die kulturspezifischen Ausnahmen explizit, hinreichend und verlässlich definiert worden sind. Ist die „bemerkenswerte kulturelle Vielfalt“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union von CETA bedroht oder nicht? Sind tatsächlich alle Bereiche der facettenreichen europäischen und kanadischen Kultur von CETA ausgenommen? Und falls nicht, welche Teilbereiche der Kultur müssen mit welchen Folgen rechnen?
2. Definitionen des Kultursektors
Zunächst ist zu klären, wie und in welchem Umfang der Kultursektor in CETA definiert ist.
2.1. Präambel
Die erste Erwähnung des Kultursektors findet sich in der Präambel des Vertragstextes. So heißt es im Kapitel 1 „Preamble“ (Seite 6 und 7):
Kapitel 1 „Preamble“
The parties resolve to
RECOGNIZING that the provisions of this Agreement preserve the right to regulate within their territories and resolving to preserve their flexibility to achieve legitimate policy objectives, such as public health, safety, environment, public morals and the promotion and protection of cultural diversity; and
AFFIRMING their commitments as Parties to the UNESCO Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions and recognizing that states have the right to preserve, develop and implement their cultural policies, and to support their cultural industries for the purpose of strengthening the diversity of cultural expressions, and preserving their cultural identity, including through the use of regulatory measures and financial support.
Die UNESCO Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions trat im Jahr 2005 in Kraft. Ihr lag die Befürchtung zugrunde, dass der weltweite Freihandel die kulturellen Angebote vereinheitlicht und nationale Identitäten und Kulturen gefährdet. So sagte der ehemalige Generaldirektor der World Trade Organisation (WTO), Renato Ruggiero, im Jahr 1997: „Managing a world of converging economies, peoples and civilizations, each one preserving its own identity and culture, represents the great challenge and the great promise of our age. We are only the treshold of this new era and the future is still unclear.“
Kanada als Initiator und die EU als entscheidender Befürworter haben sich für die UNESCO-Konvention stark gemacht. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Konvention in der Präambel erwähnt wird. Der Wille zur Sicherung der kulturellen Vielfalt scheint also da zu sein.
Professor Hans-Georg Dederer vertritt in seinem Rechtsgutachten „TTIP und Kultur“ die Auffassung, dass die Präambel eine „zentrale Bedeutung für die Auslegung und Anwendung“ des Vertrages hat. Hätte die Präambel eine solche normsetzende Kraft, gäbe es weniger Anlass zur Sorge. Tatsächlich aber hat die Präambel keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit und sollte daher nicht über die Bestimmungen im eigentlichen Vertragstext hinwegtäuschen. Denn ein einfaches „Bekräftigen“ der kulturellen Vielfalt wird kaum im Sinne einer Schutzklausel wirken und dürfte im Konfliktfall kaum einen Investor von einer Klage abschrecken. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die beiden wichtigsten Unterstützer lediglich in der Präambel von CETA die UNESCO-Konvention erwähnen und im eigentlichen Vertragstext auf einen Bezug zur Konvention verzichten.
Die EU und Kanada wollen den Kulturbereich, wie sie wiederholt durch ihre Verhandlungsführer zum Ausdruck gebracht haben, von den Bestimmungen des CETA-Vertrages ausnehmen. Inwieweit das tatsächlich geschehen ist und ob das Vertragswerk den Kulturbereich verlässlich und rechtssicher vom CETA-Vertrag ausnimmt, wird in dieser Studie auf der Basis des Wortlauts des Vertrages geprüft.
2.2. Audiovisuelle Dienstleistungen und „cultural industries“
Festzustellen ist zunächst, dass die beiden Vertragsparteien sich unterschiedlicher Definitionen des Kulturbereichs bedienen. Die Europäische Union erklärt nicht den gesamten Kulturbereich als von CETA ausgenommen, sondern nur die audiovisuellen Dienstleistungen. Auffallend ist, dass an keiner Stelle des 1.634 Seiten umfassenden Vertragswerks audiovisuelle Dienstleistungen definiert werden. Man kann mutmaßen, dass die EU die audiovisuellen Dienstleistungen im Sinne der einschlägigen UN-Produktklassifikation verstanden wissen will.
Dient die Version 2.0 der Zentralen Produktklassifikation der UN (Central Product Classification – CPC) als Grundlage für die Definition der audiovisuellen Dienstleistungen, so gehören Film-, Fernseh-, Radio-, Video- und Soundproduktion dazu, nicht aber der Printbereich und auch nicht die Übertragung von Inhalten. Die Übertragungsdienste (Broadcasting, programming and programme distribution services) werden als Teil des Telekommunikationssektors (Telecommunications, broadcasting and information supply services) erfasst. Jedoch wird nicht ersichtlich, welche CPC-Version tatsächlich dem Abkommen zugrunde liegt.
Anders als die Europäische Union hat Kanada eine explizite Definition in das Vertragswerk aufnehmen lassen. Diese von Kanada eingebrachte Definition ist weiter als die der Europäischen Union und bezieht sich auf „cultural industries“, die wie folgt definiert sind:
Kapitel 32 „Exceptions“, Article X.01 (Seite 455):
Cultural industries means a person engaged in:
(a) the publication, distribution or sale of books, magazines, periodicals or newspapers in print or machine-readable form, except when printing or typesetting any of the foregoing is the only activity;
(b) the production, distribution, sale or exhibition of film or video recordings;
the production, distribution or sale of music in print or machine-readable form; or
radiocommunications in which the transmissions are intended for direct reception by the general public, and all radio, television and cable broadcasting undertakings and all satellite programming and broadcast network services.
„Kulturelle Industrien“ sind also Personen und Unternehmen, die für die Veröffentlichung, die Verbreitung oder den Verkauf von Printprodukten sowie für die Produktion, Verbreitung, Verkauf oder Ausstellung von Bild- und Tonerzeugnissen verantwortlich sind. Im Vergleich zu dem engen, auf audiovisuelle Dienstleistungen eingeschränkten Kulturbegriff der Europäischen Union fällt auf, dass die von Kanada explizit definierten „cultural industries“ neben der Bild- und Tonproduktion auch den Printbereich sowie die Verbreitung dieser drei Bereiche mit einschließen. Kanada hat also – anders als die Europäische Union – eine explizite und eine deutlich weiter gefasste Definition seines Kultursektors im CETA-Vertrag verankert.
Allerdings muss man sich auch bei Kanadas Kulturdefinition fragen, ob sie ausreichend ist und weshalb nicht auch beispielsweise Theater, Live Bands, Zirkusbetriebe, Bibliotheken, Archive und Museen zur Kulturindustrie gezählt wurden.
Im Folgenden sind zwei Fragen zu beantworten, die deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Erstens ist zu prüfen, inwieweit die audiovisuellen Dienstleistungen in der EU und die „cultural industries“ in Kanada verlässlich von allen Verpflichtungen des CETA-Vertrages ausgenommen sind. Zweitens ist zu erörtern, inwieweit jene Kulturbereiche, die außerhalb der beiden Definition liegen, von den Bestimmungen des Vertrages erfasst sind.
3. Gefahren für den Kultursektor
Wie bereits erwähnt, arbeitet das Freihandelsabkommen zwischen Kanada und der EU mit dem Negativlistenansatz. Alle Bereiche, die nicht explizit vom Vertrag ausgenommen sind, werden automatisch von den allgemeinen Liberalisierungsanforderungen des Abkommens erfasst. Deshalb ist es wichtig zu sehen, wo genau und inwiefern sich die Vertragsparteien hinsichtlich ihres Kultursektors Ausnahmen vorbehalten.
Im Kapitel über die „allgemeinen Ausnahmen“ wird rückblickend auf vorherige Kapitel aufgeführt, von welchen Bestimmungen des CETA-Vertrages der Kultursektor der beiden Vertragsparteien ausgenommen sein soll, wobei zu beachten ist, dass der Begriff „culture“ jeweils im Sinne der oben genannten Definitionen zu verstehen ist (also audio-visuelle Dienstleistungen für die EU und „cultural industries“ für Kanada).
In Article X.08 (Seite 461) heißt es:
„The parties recall the exceptions applicable to culture as set out in the relevant provisions of Chapters X, Y and Z (Cross-Border Trade in Services, Domestic Regulation, Government Procurement, Investment, Subsidies).“
Beide Parteien wiederholen ihre Festlegung, dass der Kultursektor von den Bestimmungen der Kapitel über die grenzüberschreitenden Dienstleistungen, die innerstaatlichen Regulierungen, das staatliche Beschaffungswesen, über die Investitionen und die Subventionen ausgenommen ist.
So ist, um ein Beispiel aus diesen Kapiteln zu nennen, im Kapitel über die innerstaatliche Regulierung festgelegt (Seite 246):
2. This Chapter does not apply to licensing requirements and procedures and to qualification requirements and procedures:
b) relating to sectors/activities set out below:
For Canada: …, and cultural industries
For the European Union: …, and audio-visual services.
Diese wiederholten Ausnahmeregelungen für die audio-visuellen Dienstleistungen der EU und für die „cultural industries“ Kanadas scheinen auf den ersten Blick zu bestätigen, dass beide Vertragspartner tatsächlich gemäß ihrer öffentlich deklarierten Absicht den Kultursektor von Liberalisierungsverpflichtungen ausnehmen. Gleichwohl gibt es in einigen Kapiteln des CETA-Abkommens Schlupflöcher, die es internationalen Investoren möglich machen, ihre Interessen durchzusetzen. Wo genau diese sind und inwiefern sie Gefahren für den Kultursektor darstellen könnten, soll im folgenden Abschnitt aufgezeigt werden.
3.1. Subventionen
Der europäische Kultursektor wird in erheblichen Umfang subventioniert. Zwar ist auch im Bereich der Kultur die Privatisierung in den vergangenen Jahrzehnten vorangetrieben worden, aber ohne die Subventionierung kultureller Einrichtungen wäre die Vielfalt der europäischen Kulturlandschaft längst nicht so ausgeprägt. Daher ist es wichtig zu sehen, in welchem Maße Subventionen in CETA eine Rolle spielen und ob deren Bestimmungen den Bereich der Kultur nachhaltig verändern könnten.
Subventionen werden im gleichnamigen Kapitel (Subsidies) wie folgt definiert:
Kapitel 9 „Subsidies“ (Seite 142)
Article x1 Definition of a subsidy
1. For the purposes of this Agreement, a subsidy is a measure related to trade in goods which fulfils the conditions set out in Article 1.1 of the WTO Agreement on Subsidies and Countervailing Measures (SCM Agreement).
2. A subsidy shall be subject to this chapter only if it is specific within the meaning of Article 2 of the SCM Agreement.
Laut Artikel 1.1 des WTO Agreement on Subsidies and Countervailing Measures stellt eine Subvention einen finanziellen Beitrag seitens einer Regierung oder einer anderen öffentlichen Anstalt innerhalb ihres eigenen Territoriums dar. Also alles, was durch staatliche Mittel finanziert oder kofinanziert wird, ist eine Subvention. Im Artikel 2 des WTO-Vertrages werden spezifische Subventionen näher erläutert. So sind Subventionen beispielsweise nur dann spezifisch, wenn sie ausschließlich auf bestimmte Unternehmen beschränkt sind.
Auch im Kapitel über die Subventionen werden die kulturspezifischen Ausnahmen beider Vertragsparteien wiederholt (Seite 144):
Article x7 Excluded Subsidies and Government Support – Culture (Seite 144)
Nothing in this Agreement applies to subsidies or government support with respect to audio-visual services for the EU and to cultural industries for Canada
Gemäß dieser Ausnahmebestimmung sind sämtliche Festlegungen des Subventionskapitels nicht für die audiovisuellen Dienstleistungen in der EU und für die „cultural industries“ in Kanada anwendbar. Alle subventionierten Bereiche der Kultur, die außerhalb dieser beiden Definitionen liegen, werden allerdings vom Subventionskapitel erfasst. Wie zu zeigen sein wird, kann das gerade für den von staatlichen Zuwendungen besonders profitierenden europäischen Kultursektor von zentraler Bedeutung sein.
Kernstück des Kapitels über Subventionen ist der Article x3, wobei zu beachten ist, dass die Bereiche der Agrarindustrie und der Fischerei von diesem Artikel ausgenommen sind, da für sie andere Subventionsbestimmungen gelten, die in einem eigenen Artikel näher erläutert werden.
Im Article X3 heißt es:
Consultation on subsidies and government support in sectors other than agriculture and fisheries (Seite 142 und 143)
1. If a Party considers that a subsidy, or a particular instance of government support related to trade in services, granted by the other Party is adversely affecting, or may adversely affect its interests, it may express its concern to the other Party and request informal consultations on the matter. The responding Party shall accord full and sympathetic consideration to that request.
3. On the basis of the informal consultations, the responding Party shall endeavour to eliminate or minimise any adverse effects of the subsidy, or the particular instance of government support related to trade in services, on the requesting Party´s interests.
Gemäß diesem Artikel stehen Subventionen unter Rechtfertigungszwang. Haben Subventionen einen nachteiligen Effekt auf die Interessen einer Vertragspartei, kann diese die Einberufung einer Konsultation verlangen und die andere Partei dazu auffordern, sich um die „Eliminierung“ oder „Minimierung jeglicher negativer Effekte“ der Subvention zu bemühen. Weitere Sanktionsmöglichkeiten sind dabei zunächst ausgeschlossen, da der Artikel x3 laut Artikel x9 vom Streitschlichtungsmechanismus ausgenommen ist (Seite 144):
Article x9 – Dispute Settlement
Articles x3 and x4 of this chapter shall not be subject to the dispute settlement provisions of this Agreement
Staatliche Zuwendungen sind demnach zwar generell weiterhin möglich, stehen aber unter dem Druck der Konsultationen, die zu einer Überprüfung von Subventionen und letztendlich zu ihrem Abbau führen könnten. Alle Kulturbereiche, die nicht unter die eng gefasste Definition der Europäischen Union (audio-visuelle Dienstleistungen) oder die Definition Kanadas („cultural industries“) fallen, können folglich unter Legitimationsdruck geraten und zum Gegenstand der genannten Konsultationen werden.
Der Konsultationsmechanismus ist jedoch nicht das einzige Mittel, um Subventionen anzugreifen. Auch außerhalb des CETA-Subventionskapitels finden sich Regelungen über staatliche Zuwendungen – so zum Beispiel im Investitionskapitel.
3.2. Investitionen
Das Kapitel „Investment“ ist eines der umfangreichsten des Vertrages und regelt in aller Ausführlichkeit, wie sich die Vertragsparteien zu den Investitionen der jeweils anderen Seite zu verhalten haben.
3.2.1. Definitionen im Investitionskapitel
Investitionen werden laut Vertragstext sehr breit definiert:
Article X.3: Definitions (Seite 149)
‘investment’ means:
Every kind of asset that an investor owns or controls, directly or indirectly, that has the characteristics of an investment, which includes a certain duration and other characteristics such as the commitment of capital or other resources, the expectation of gain or profit, or the assumption of risk….
Anschließend an diese Definition werden diverse Arten von Investitionen aufgelistet. Doch kann man hier nicht von einer „geschlossenen“ Auflistung sprechen. Das Wort „or“ gibt zu erkennen, dass die aufgeführten Investitionsarten als Beispiele und nicht als erschöpfende und verbindliche Aufzählung zu verstehen sind.
Ferner werden Investoren in CETA wie folgt definiert(Seite 150):
investor means a Party, a natural person or an enterprise of a Party, other than a branch or a representive office, that seeks to make, is making or has made an investment in the territory of the other Party.
Sowohl Investitionen als auch Investoren sind sehr vage formuliert. Sie eröffnen einen großen Interpretationsspielraum, der es Kapitaleigentümern, egal ob Unternehmen oder Privatpersonen, möglich macht, das Investitionskapitel für sich zu nutzen und in den Genuss von Investitionsschutzstandards zu kommen.
3.2.2. Ausnahmen im Investitionskapitel
Von den Bestimmungen des Investitionskapitels ausgenommen sind hoheitliche Aktivitäten, die von einer staatlichen Autorität ausgeübt werden (Article X.1, Absatz 2). Diese Aktivitäten sind wie folgt definiert:
„activities carried out in the exercise of governmental authority means an activity carried out neither on a commercial basis nor in competition with one or more economic operators“ (Article X.3, Seite 147).
Entsprechend dieser Definition gelten Aktivitäten nur dann als hoheitlich, wenn sie weder auf kommerzieller Grundlage noch in Konkurrenz zu einem oder mehr als einem Anbieter stattfinden. Folglich sind staatliche oder staatlich subventionierte Theater, Museen und Bildungseinrichtungen vom Investitionskapitel erfasst, weil sie tatsächlich oder potenziell in Konkurrenz zu privaten, gewinnorientierten Unternehmen stehen.
Wie in den bereits genannten Kapiteln setzt sich die Ausklammerung der audiovisuellen Dienstleistungen der EU und der „cultural industries“ Kanadas auch im Investitionskapitel fort (Seite 147):
Article X.1: Scope of Application
1. For the EU, the Section on Establishment of Investments and Section on Non-Discriminatory Treatment do not apply to measures with respect to audiovisual services.
For Canada, the Section on Establishment of Investment and Section on Non-Discriminatory Treatment do not apply to measures with respect to cultural industries.
Anders als in den übrigen Kapiteln des CETA-Vertrages gelten jedoch die vorbehaltenen Ausnahmen zu den audiovisuellen Dienstleistungen der EU und den „cultural industries“ Kanadas nicht für das gesamte Investitionskapitel. Sie werden lediglich von den Abschnitten über die Niederlassung und die Nichtdiskriminierung (Section 2 und 3) ausgeklammert, nicht aber von den Abschnitten über den Investitionsschutz (Section 4) und über die Investor-Staat-Schiedsverfahren (Section 6).
Diese beiden „Ausnahmen von den Ausnahmen“ bergen die größten Gefahren für die Kultur, weil sie sämtliche Kulturbereiche, auch die audio-visuellen Dienstleistungen der EU und die „cultural industries“ Kanadas, der Bedrohung durch Investorenklagen aussetzen, die dann auf Grundlage des Abschnittes über die Investor-Staat-Schiedsverfahren eingereicht werden können.
3.2.3. Subventionen im Investitionskapitel
Wie bereits erwähnt, sind staatliche Subventionen ebenfalls über das Investitionskapitel generell angreifbar. Zwar sind sie von den Marktzugangs- und Nichtdiskriminierungsregeln ausgeschlossen, jedoch nicht vom Enteignungsschutz und dem Prinzip der fairen und gerechten Behandlung (Article X.14 (5b), Seite 162-163).
Der Article X.11 „Expropriation“ (Seite 158), also die direkte und indirekte Enteignung, könnte für Investoren als nützliches Schlupfloch dienen, um staatliche Maßnahmen und Regulierungen vor einem Schiedsgericht anzufechten. Im Annex I des Investitionskapitels wird die direkte und indirekte Enteignung näher definiert (Seite 183):
The parties confirm their shared understanding that:
1. Expropriation may be either direct or indirect:
direct expropriation occurs when an investment is nationalised or otherwise directly expropriated through formal transfer of title or outright seizure; and
indirect expropriation occurs where a measure or series of measures of a Party has an effect equivalent to direct expropriation, in that it substantially deprives the investor of the fundamental attributes of property in its investment, including the right to use, enjoy and dispose of its investment, without formal transfer of title or outright seizure
Diese Definition von direkter und indirekter Enteignung ist ähnlich vage wie die bereits genannten Definitionen von Investitionen und Investoren. Sie eröffnet erheblichen Interpretationsspielraum. Zwar wird im Absatz 3 des dem Enteignungskapitel angehängten Annex X.11 (S. 183) gesagt, dass für legitime Wohlfahrtsziele, wie Gesundheit, Sicherheit und Umwelt, den Staaten weiterhin Regulierungsmaßnahmen gestattet werden. Nur werden diese nicht weiter definiert. Was versteht also ein internationales Schiedsgericht unter Gesundheit, Sicherheit und Umwelt? Und vor allem: Was ist mit Bildung und Kultur? Warum werden diese beiden Bereiche nicht erwähnt?
Es ist demnach denkbar, dass private Investoren aufgrund dieses Artikels im Investitionskapitel „ihre im öffentlichen Auftrag tätigen Konkurrenten für Umsatzeinbußen verantwortlich machen und als eine Form indirekter Enteignung darstellen.“ Darüber hinaus könnte womöglich auch die Buchpreisbindung als indirekte Enteignung dargestellt werden. Allein der Umstand, dass Subventionen zwar von den Marktzugangs- und Nichtdiskriminierungsregeln ausgeschlossen werden, aber eben nicht von der fairen und gerechten Behandlung und dem Enteignungsschutz, lässt handfeste unternehmerische Interessen bezüglich der Beseitigung staatlicher Subventionen vermuten.
Ein weiterer Ansatzpunkt für die Infragestellung staatlicher Zuwendungen ist der Artikel über die faire und gerechte Behandlung im Investitionskapitel. Dieser umstrittene Investitionsschutzstandard ist im CETA-Vertrag wie folgt definiert (Seite 158):
Article X.9:Treatment of Investors and of Covered Investments
Each Party shall accord in its territory to covered investments of the other Party and to investors with respect to their covered investments fair and equitable treatment and full protection and security in accordance with paragraphs 2 to 6.
(Paragraph 6)
When applying the above fair and equitable treatment obligation, a tribunal may take into account whether a Party made a specific representation to an investor to induce a covered investment, that created a legitimate expectation, and upon which the investor relied in deciding to make or maintain the covered investment, but that the Party subsequently frustrated.
Man kann vermuten, dass in den Augen von privaten Investoren die staatliche Finanzierung von Kulturinstitutionen wie beispielsweise Theatern, Museen und Opern im Konfliktfall eine Bevorzugung darstellt, die sowohl die Gewinnerwartung („legitimate expextation“) ihrer Unternehmen schmälert als auch der fairen und gerechten Behandlung zuwider läuft. Der Gang vor ein internationales Schiedsgericht scheint hierbei nicht ausgeschlossen. Schadensersatzklagen in Millionenhöhe oder die Streichung von staatlicher Subventionierung könnten die Folge sein und die Kulturlandschaft nachhaltig verändern. Gerade das Prinzip der fairen und gerechten Behandlung, das sich bereits in anderen internationalen Investitionsverträgen findet, ist das bis heute am häufigsten benutzte Instrument für Investor-Staat-Klagen.
Das Investitionskapitel kann für den europäischen Kultursektor zum entscheidenden Abschnitt des Vertrags werden. Dank der vagen Definitionen von Investoren und Investitionen und angesichts der beiden besonders problematischen, oben genannten „Ausnahmen von den Ausnahmen“ sind sämtliche Kulturaktivitäten vom Investitionskapitel erfasst. Entsprechend können Investoren für sich Investitionsschutzstandards reklamieren. Zusätzlich können die Abschnitte über den Enteignungsschutz und über die billige und gerechte Behandlung als nützliche Instrumente zur Eindämmung oder Abschaffung von staatlichen Zuwendungen dienen.
Die Behauptung der CETA-Verhandlungsführer, den Kultursektor umfassend vor den Verpflichtungen des Vertrages geschützt zu haben, ist offenkundig falsch, wie das Investitionskapitel zeigt. Die Kulturbereiche, die nicht unter die beiden Definitionen (audio-visuelle Dienstlungen in der EU und „cultural industries“ in Kanada) fallen, sind eindeutig von Vertragsverpflichtungen betroffen und dank des Negativlistenansatzes komplett vom Investitionskapitel erfasst. Darüber hinaus aber dürften auch die audio-visuellen Dienstleistungen in der EU und die „cultural industries“ in Kanada gefährdet sein, weil auch sie weder von den Bestimmungen des Investitionsschutzes noch von den Investor-Staat-Schiedsverfahren ausgenommen sind.
3.3. Staatliches Auftrags- und Beschaffungswesen
Auch das Kapitel über das staatliche Auftragswesen (Government Procurement) weist einige Lücken auf, die für den Kultursektor von Bedeutung sein könnten. Es umfasst, wenn man es auf die EU und Deutschland bezieht, den Einkauf von Waren, Dienstleistungen und Bauleistungen durch Beschaffungsstellen der EU, des Bundes, der Bundesländer und der Gemeinden. Über Anhänge wird festgelegt, ab welchem Schwellenwert die Beschaffungsstellen ihre Ausschreibungen gegenüber kanadischen Bietern öffnen müssen. Sonderziehungsrechte (Währungskorb des IWF) geben die Schwellenwerte an. Derzeit entspricht ein SZR 1,1916 Euro (31.12.2014).
Im Annex I des Kapitels ist festgehalten, dass Bundesministerien und Bundesbehörden Waren und Dienstleistungen ab einem Wert von 130.000 Sonderziehungsrechten ausschreiben müssen. Für Bundesländer und Gemeinden gilt laut Annex II ein Schwellenwert von 200.000 Sonderziehungsrechten. Explizit wird festgehalten, dass dies auch für Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und verschiedene soziale Dienste gilt (Seite 714):
Supplies
Specified in Annex 4
Tresholds for hospital, schools, universities, and entities providing social services (housing, social insurance, day care), that are bodies governed by public law:
SDR 200,000
For other entities: SDR 355,000
Der Artikel XII Limited Tendering (Seite 323) enthält einige Einschränkungen bezüglich des staatlichen Auftragswesens:
1. Provided that it does not use these provisions for the purpose of avoiding competition among suppliers or in a manner that discriminates against suppliers of the other Party or protects domestic suppliers, a procuring entity may use limited tendering and may choose not to apply Articles VI through VII, IX (paragraphs 7 through 11), X, XI, XIII and XIV only under any of the following circumstances:
(b) where the goods or services can be supplied only by a particular supplier and no reasonable alternative or substitute goods or services exist for any of the following reasons:
i the requirement is for work of art;
Gemäß dieser Einschränkung sind begrenzte Ausschreibungen zulässig, sofern die Vertragsparteien nicht die Absicht haben, sich dem Konkurrenzkampf zu entziehen, andere Anbieter zu diskriminieren oder inländische Anbieter zu schützen. Zulässig ist eine solche Begrenzung insbesondere dann, wenn der Auftrag nur von einem bestimmten Anbieter ausgeführt werden kann und wenn es keine nennenswerte Alternative gibt – so unter anderem auch für Arbeiten der Kunst. Was man unter „work of art“ zu verstehen hat, ist allerdings nirgends festgehalten. Aufgrund dieser Unbestimmtheit könnten auch Kunstwerke, die von öffentlichen Stellen in Auftrag gegeben werden, von Ausschreibungspflichten betroffen sein.
Im weiteren Verlauf der Annexe des Kapitels über das staatliche Auftragswesen fällt eine Ausnahme besonders auf. Die kanadische Provinz Québec ist die einzige Gebietskörperschaft, die explizite Vorbehalte für ihren Kultursektor in den Vertragstext aufnehmen ließ.
So heißt es in Annex X-07 (Seite 654):
General Notes
1. This Chapter does not include procurement:
(g) by Québec entities of works of art from local artists or to procurement by any municipality, academic institution or school board of other provinces and territories with respect to cultural industries; for the purpose of this paragraph, works of art includes specific artistic works to be integrated into a public building or a site;
2. This Chapter does not apply to:
(d) any measure adopted or maintained by Québec with repect to cultural industries.(s. 654)
Die kanadische Provinz Québec behält sich also das Recht vor, die Beschaffung von Kunstwerken oder sonstigen Kulturgütern souverän und frei von jedweden Ausschreibungspflichten gestalten zu können. Dank einer breit gefassten Formulierung, die von lokalen Künstlern bis hin zu Arbeiten der Kunst in öffentlichen Gebäuden und an Plätzen reicht, kann sie sich den Liberalisierungsanforderungen von CETA entziehen, die das Beschaffungswesen tangieren könnten. Außerdem wird nochmals bekräftigt, dass sämtliche Maßnahmen der Privatisierung beziehungsweise Liberalisierung im Rahmen des staatlichen Auftragswesens nicht auf den Bereich der kulturellen Industrien in Québec anwendbar sind.
Québecs expliziter Vorbehalt wirft die Frage auf, weshalb nicht andere Gebietskörperschaften ebenfalls solche Klarstellungen gefordert und durchgesetzt haben. Warum haben EU-Staaten oder andere kanadische Provinzen darauf verzichtet, ihre kulturbezogene Beschaffungs- und Auftragspolitik derart eindeutig zu schützen?
4. Der Kultursektor in den Verpflichtungslisten
Die dem Vertrag angehängten Verpflichtungslisten, Annex I und Annex II, legen detailliert fest, welche Vertragsparteien sich Ausnahmen von den allgemeinen CETA-Verpflichtungen vorbehalten. Während sich Annex I auf bereits bestehende Regulierungen bezieht, erlaubt es Annex II den Vertragsparteien Vorbehalte bezüglich zukünftiger Maßnahmen und Bestimmungen zu formulieren.
4.1. Annex I
Auch in der Verpflichtungsliste Annex I fällt auf, dass Kanada ein größeres Interesse daran hat, seinen Kultursektor von den allgemeinen Liberalisierungsmaßnahmen des CETA-Vertrages zu schützen als die EU. Während man in der Annex-I-Liste vergebens nach Ausnahmeregelungen für den EU-Kultursektor sucht, findet man in den Vorbehalten Kanadas hingegen folgendes:
Annex I – Schedule for Canada (Seite 740)
Type of Reservation: National Treatment
Market Access
Performance Requirements
Senior Management and Boards of Directors
Description: Investment
4. An Investment subject to review under the Investment Canada Act may not be implemented unless the Minister responsible for the Investment Canada Act advises the applicant that the investment is likely to be of net benefit to Canada. This determination is made in accordance with 6 factors described in the Act, summarized as follows:
(e) the compatibility of the investment with national industrial, economic and cultural policies, taking into consideration industrial, economic and cultural policy objectives enunciated by the government or legislature of any province likely to be significantly affected by the investment;
Kanada behält sich demnach das Recht vor, ausländische Investitionen zu untersagen, sollten diese unvereinbar mit der kulturpolitischen Linie sein. Allerdings bezieht sich diese Ausnahme nur auf die Marktöffnung und die Inländerbehandlung sowie auf „Performance Requirements“ und „Senior Management and Boards of Directors“ im Investitionskapitel, nicht aber auf den Abschnitt der gerechten und billigen Behandlung sowie der Enteignung. Dennoch hat sich Kanada zumindest in Teilen darum bemüht, seinen Kultursektor vor ausländischen Investoren zu schützen. Die EU verzichtet im Annex I vollständig auf diese Option.
4.2. Annex II
Eine für EU-Verhältnisse ausführliche Sicherung des Kultursektors taucht erstmals in der Verpflichtungsliste Annex II auf. Folgende Vorbehalte sichert sich die EU für zukünftige Liberalisierungsmaßnahmen:
Annex II Reservations for Future Measures
Sector: Recreational, cultural and sporting services
Industry classification: CPC 9619, CPC 963 Library, archive, museum and other cultural services and CPC 964 Sporting and other recreational services other than CPC 96492
Type of Reservation: Market Access
National Treatment
Most-Favoured-Nation Treatment
Performance requirements
Senior Manangement and Boards of Directors
Discription: Cross-Border Services and Investment
The EU except AT reserves the right to adopt or maintain any measure with respect to the provision of library, archive, museum, and other cultural services (CPC 963)
In addition, the EU, except AT and SE, reserves the right to adopt or maintain any measure requiring establishment and restricting the cross-border provisions of entertainment services, including theatre, live bands, circus and discotheque services.
Mit Bezug auf die Kapitel über die grenzüberschreitenden Dienstleistungen und die Investitionen behält sich die EU – außer Österreich – das Recht vor, sämtliche Maßnahmen, die Bibliotheken, Archive, Museen und andere Kulturdienste (CPC 963 = Services of performing and other artists) betreffen, frei von CETA-Verpflichtungen selbst zu bestimmen. Außerdem klammert die EU, mit Ausnahme von Österreich und Schweden, Maßnahmen aus, die Unterhaltungsdienste wie Theater, Live Bands, Zirkus und Diskotheken tangieren.
Deutschlands Vorbehalte im Annex II gleichen denen der EU:
Sector: Recreational, cultural and sporting services
Sub-sector: Entertainment services, including theatre, live bands and circus services, Libraries, archives and museums and other cultural services
Industry classification: CPC 96, except for 962 (News and Press Agency Services) and 964 (Sporting and Other Recreational Services) and Audiovisual Services
Type of Reservation: Market Access
National Treatment
Most-Favoured-Nation Treatment
Performance Requirements
Senior Management and Boards of Directors
Discription: Cross-Border Services and Investment
Germany reserves the right to adopt and maintain any measure prohibiting the cross-border provision of services irrespective of their mode of production, distribution, or transmission and requiring establishment with respect to entertainment services (CPC 961), with the exception of audiovisual services which are not subject to liberalisation under this agreement.
Germany reserves the right to adopt and maintain any measure with respect to the provision of libraries, archives, museums and other cultural services (CPC 963)
Unterhaltungsdienstleistungen sowie Maßnahmen, die Bibliotheken, Archiven, Museen und andere Kulturdienstleistungen betreffen, wurden von Deutschland hinsichtlich zukünftiger Liberalisierungsanforderungen ausgeklammert.
Die Vorbehalte, die Deutschland und die EU im Annex II formulieren, erscheinen zunächst als richtiger Schritt. Allerdings muss man auch hier festhalten, dass diese Ausnahmen bei weitem nicht ausreichen. Zwar sind zukünftige Maßnahmen, die einige, im Vorbehalt definierte Teile des Kultursektors tangieren könnten, von den Regelungen über den Marktzugang, die Inländerbehandlung und die Meistbegünstigung sowie über „Performance Requirements“ und „Senior Management and Boards of Directors“ ausgenommen, jedoch nicht von den Abschnitten über faire und gerechte Behandlung und über den Enteignungsschutz im Investitionskapitel.
Ausländische Investoren des Kulturbereiches können sich also mit Bezug auf künftige Regulierungen dieser Instrumente bedienen, um ihr Recht vor einem internationalen Schiedsgericht geltend zu machen. Sowohl die EU als auch Deutschland haben es versäumt, ihre künftige Kulturpolitik umfassend vor den Verpflichtungen des CETA-Vertrages zu schützen.
5. Fazit
Entgegen den Behauptungen der Europäischen Kommission könnte der europäische Kultursektor massiv von dem geplanten Freihandels- und Investitionsabkommen zwischen der EU und Kanada betroffen sein. Die Erwähnung der UNESCO Konvention zur Erhaltung der kulturellen Vielfalt in der Präambel bleibt folgenlos, weil es im Vertragstext an klaren und eindeutigen Festlegungen mangelt, die geeignet wären, den Kultursektor umfassend vor den CETA-Liberalisierungsverpflichtungen zu schützen.
Die EU und Kanada haben im Vertragstext unterschiedliche Definitionen für ihren jeweiligen Kultursektor festgeschrieben. Während die EU sich auf audio-visuelle Dienstleistungen beschränkt, ist die Definition der „cultural industries“ in Kanada umfassender und expliziter. Jeweils beschränkt auf die in den beiden Definitionen enthaltenen Kulturbereiche sollen bestimmte Ausnahmen von den CETA-Verpflichtungen gelten. Ausnahmeregeln für die audio-visuellen Dienstleistungen der EU und die „cultural industries“ Kanadas finden sich in den Kapiteln über die allgemeinen Ausnahmen, über die grenzüberschreitenden Dienstleistungen, die innerstaatlichen Regulierungen, das staatliche Beschaffungswesen, über die Investitionen und die Subventionen.
Die beiden Kapitel über Subventionen und insbesondere über Investitionen enthalten die größten Gefahren für den europäischen Kultursektor. Über den im Artikel X3 des Subventionskapitels festgeschriebenen Konsultationsmechanismus stehen staatliche Zuwendungen auf dem Prüfstand und geraten Legitimationsdruck. So könnten Forderungen aufkommen, sie zu kürzen oder ganz abzuschaffen.
Das Investitionskapitel bietet ausländischen Investoren eine Plattform, um gegen Subventionen vorzugehen. Obgleich Subventionen von den Marktzugangs- und Nichtdiskriminierungsregeln ausgeklammert sind, werden staatliche Zuwendungen von den Abschnitten des Investitionskapitels über die faire und gerechte Behandlung und über den Enteignungsschutz erfasst. Über den Investitionsschutzmechanismus ist es kanadischen und in Kanada ansässigen, beispielsweise US-amerikanischen Unternehmen möglich, die Subventionierung europäischer Kultureinrichtungen als nicht faire und nicht gerechte Behandlung oder als eine Art von Enteignung darzustellen und dies vor einem internationalen Schiedsgericht anzufechten. Tatsächliche oder zu erwartende Klagen in Millionenhöhe könnten die EU und ihre Mitgliedsstaaten von sinnvoller und gesellschaftlich gewollter Kulturpolitik abhalten.
Entgegen der Behauptung der Europäischen Kommission sind die audio-visuellen Dienstleistungen nicht komplett von den CETA-Verpflichtungen ausgenommen. Lückenhaft im Sinne mangelnden Schutzes der audio-visuellen Dienstleistungen sind insbesondere das Subventionskapitel und das Investitionskapitel. Deshalb sind sowohl die Subventionen gefährdet, die für audiovisuelle Dienstleistungen gezahlt werden, als auch die in öffentlicher Regie betriebenen audio-visuellen Dienstleistungen selbst, die von privaten Investoren unter Berufung auf die faire und gerechte Behandlung und auf den Enteignungsschutz im Investitionskapitel anzugreifen sind.
Kanadas im Vergleich zur EU stärkere Ambition, den Kultursektor vor den CETA-Verpflichtungen zu schützen, wird auch in den Verpflichtungslisten Annex I und Annex II deutlich. So behält sich Kanada das Recht vor, ausländische Investitionen im Kultursektor zu untersagen, solange sie nicht mit der kanadischen Linie der Kulturpolitik vereinbar sind.
Während man in der Annex-I-Verpflichtungsliste Vorbehalte seitens der EU vergeblich sucht, werden in der Annex-II-Verpflichtungsliste erstmals spezifische Ausnahmen sowohl der EU als auch der EU-Mitgliedsstaaten mit Bezug auf den Kultursektor genannt. Aufgrund lückenhafter Definitionen und vor allem wegen des Versäumnisses, die jeweiligen Kulturbereiche auch von den Bestimmungen der fairen und gerechten Behandlung sowie vom Enteignungsschutz auszunehmen, ist der Kultursektor unzureichend vor den Angriffen auf künftige Regulierungen geschützt.