Rückblick auf den Perspektivenkongress: Wächst mit den sozialen Bewegungen und den traditionellen Gewerkschaften zusammen, was zusammen gehört?
Was passiert, wenn Gewerkschafter, wenn Menschen mit ausgeprägter Disziplin und nüchterner Bodenhaftung, auf die Lebendigkeit und Kreativität einer sehr viel jüngeren Bewegung treffen? Gibt es dann langweilige Abgrenzungsrituale, hohle Appelle an Pluralismus und Toleranz? Dominiert dann die Gruppendynamik die inhaltliche Diskussion? Wer mit solchen Befürchtungen am vergangenen Wochenende den Perspektivenkongress in Berlin besuchte, wurde angenehm überrascht. Therapeutische Beschwörungen waren in mancher Veranstaltung nicht zu überhören, aber sie klangen wie überflüssige Übungen.
Die politische Wirklichkeit hat diejenigen, die sich vor fünf, sechs Jahren wohl noch fremd gewesen wären, längst vereint. Objektiv zumindest, weil alle gemeinsam vom derzeitigen Kurs des bundesdeutschen Establishments betroffen sind. Den verbliebenen Dissens genau zu benennen, fällt im Moment schwerer als Gemeinsamkeiten zu finden. Erwerbsarbeit darf nicht arm machen und soll gerecht verteilt werden, die Rente muss auskömmlich sein, in der Bildung darf es keine Klassenschranken geben, starke Schultern müssen mehr tragen als schwache – diesen vier elementaren Forderungen, von Frank Bsirske, dem Verdi-Vorsitzenden, als Fazit formuliert, wollte jedenfalls niemand widersprechen.
Das Bemühen, aufeinander zuzugehen, wechselseitige Vorbehalte beiseite zu lassen, war von Anfang an spürbar. „Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erfolgreich sind wir dann, wenn wir in dieselbe Richtung marschieren“ – dieser Satz von Jürgen Peters hätte in früheren Zeiten entsetztes Kopfschütteln jener geerntet, die von zuviel Geschlossenheit ihre Subjektivität bedroht sehen. Ein gewisses Raunen war im überfüllten Audimax der TU Berlin durchaus zu vernehmen, als der IG Metall-Chef sprach, aber ohne bissigen Unterton, eher freundlich gemeint – er hat ja recht, aber der Ton stimmt noch nicht so ganz. Das Wohlwollen gegenüber Peters und anderen Gewerkschaftern, die es gewohnt sind, geradlinig zu argumentieren, dürfte sich aus einer Erfahrung speisen, die in den vergangenen Jahren zum Allgemeingut geworden ist. Wenn der Protest sich nicht bündeln lässt, bleibt er wirkungslos. Und wer nur defensiv den Status Quo verteidigt – auch das ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit -, wird auf die gesellschaftlichen Reformdebatten keinen Einfluss gewinnen. Wo liegen also die Perspektiven? Was ist dem permanenten Trommelfeuer der Parteien und der Wirtschaftsverbände entgegen zu setzen?
Beim ersten Blick auf das Kongressprogramm mit 130 Workshops und Podiumsdiskussionen war zunächst zu erwarten, dass die Antworten wohl eher traditionell ausfallen würden. Alle bekannten Themen, wie etwa Grundsicherung,
Bürgerversicherung und Arbeitszeitverkürzung, hatten ihre Fürsprecher. Trotzdem war der Kongress auch inhaltlich ein Fortschritt, weil – neben der kollektiven Rückversicherung über das, was gut und richtig ist – auch ausgefeilte Konzepte für einzelne Politikbereiche präsentiert wurden.
Ein Beispiel ist die von Attac und Verdi ausgearbeitete „solidarische Einfachsteuer“, die das Steuersystem entrümpeln und gleichzeitig mehr Steuergerechtigkeit schaffen würde. Im Sinne des publizistischen Sexappeal hätte man eine andere Bezeichnung wählen sollen – aber das Konzept hat es in sich. Erstmals wird bis in die Details der administrativen Umsetzung konkretisiert, wie eine einheitliche Steuerprogression für die verschiedenen Einkommensarten funktionieren müsste. Auf den Einwand, dass Kapital und Vermögen noch zu sehr geschont würden, meinte Sven Giegold, einer der Autoren des Konzepts, dass es gegenwärtig vor allem darauf ankomme, mit eigenen, durchgerechneten Vorschlägen medial zu punkten. Statt folgenlos Maximalforderungen aufs Papier zu bringen, sei es an der Zeit, die Sensibilität der Bevölkerung produktiv aufzugreifen und einen Richtungswandel der bundesdeutschen Politik zu befördern. Etwa nach dem Motto: Wenn wir an einer einzigen wichtigen Front den Siegeszug des Neoliberalismus stoppen, haben wir schon viel erreicht.
Der Perspektivenkongress war immer dann besonders fruchtbar, wenn der jeweilige Druckpunkt getroffen wurde, wenn es den Referenten gelang, alternative Szenarien mit den Durchsetzungschancen zu verbinden. So meinte etwa Ewald Nowotny von der Wirtschaftsuniversität Wien, dass in der Europäischen Union jeder weitere Fortschritt beim Binnenmarkt mit einer Steuerharmonisierung verbunden werden könne, und zwar mit Mindeststeuersätzen auch für Kapital und Vermögen, und nicht nur für den Verbrauch. Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club, Informatik-Professor Bernd Lutterbeck und Verdi-Referentin Annette Mühlberg sprachen über die Chancen einer freien Informationsgesellschaft, die sich eröffnen, wenn man Softwarepatente, Zensur im Internet und die Privatisierung des Wissens und der genetischen Ressourcen erfolgreich zurückweist: Entweder auf dem Pfad von „Microsoft & Monsanto“ oder in die Zukunft mit „Linux & freiem Saatgut“.
Wächst mit den sozialen Bewegungen und den traditionellen Gewerkschaften zusammen, was zusammen gehört? Diese Frage wird wohl erst zu beantworten sein, wenn jenseits des Widerstands gegen den Sozialabbau kontroverse Themen zu bewältigen sind, wenn zum Beispiel Arbeitsplätze in fragwürdigen Branchen gegen den ökologischen Imperativ stehen und wenn die Gewerkschaften, wie im Wahljahr 2006, sich einer klaren Haltung zur SPD nicht entziehen können. Dass manches voneinander zu lernen ist – das zumindest hat der Kongress gezeigt.