Regierungspartei SPD: Bessere Vorlagen für eine konservative Ära gibt es nicht
Die Zeichen fortschreitenden Verfalls mehren sich. Aus dem Willy-Brandt-Haus ist zu hören, dass Gerhard Schröder, wie ehedem Erich Honecker in seinen späten Jahren, von der Lage im Lande nicht mehr viel wissen will und sich lieber als kluger, international angesehener Staatsmann würdigen lässt. Seine Vorstandskollegen schweigen, wie Wolfgang Thierse, der sich kaum noch aus der Deckung traut, oder zertreten den letzten Rest sozialdemokratischer Glaubwürdigkeit, wie Wolfgang Clement, der eilfertig jede Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich als Fortschritt begrüßt. Und Hans Eichel legt einen Haushalt vor, der nur mit ungesicherten Privatisierungen innerhalb der Verfassung gehalten werden kann und keinerlei Impuls für irgendetwas erkennen lässt.
Noch ist Schröder Kanzler und die SPD nicht völlig am Ende. Für einen doppelten Nachruf auf Person und Partei ist die Zeit noch nicht reif. Aber das rot-grüne Projekt kann getrost schon jetzt zu Grabe getragen werden. Wenn SPD und Grüne bis 2006 im Amt bleiben, werden es zwei Jahre elenden Siechtums sein. Sie werden die Agenda 2010 weiter verfolgen, leicht gezügelt und handwerklich so schlecht wie bisher schon. Im Wahljahr werden sie versuchen, die Bürgerversicherung für sich zu reklamieren, mit der Atom-Angst der Bürger zu punkten und die Union als außenpolitischen Risikofaktor darzustellen. Aber all das wird nichts nützen, weil der Niedergang der SPD vielleicht gestoppt, aber nicht rückgängig gemacht werden kann. Überraschungen sind natürlich möglich: „Angela Merkel als IM enttarnt“, „Stoiber der Bestechlichkeit überführt“ – wahrscheinlich sind solche jähen Wendungen nicht.
Zyniker mögen sich bestätigt fühlen: In einer Welt, in der Finanzmärkte und Großunternehmen den Takt vorgeben, private Medien (und mittlerweile auch öffentlich-rechtliche) die gewünschte Melodie in Ohrwürmer fürs Volk verwandeln (zu teuer, nicht finanzierbar) und Wissenschaftler die Logik der Sachzwänge immer wieder bestätigen, sind Regierungen dazu verdammt, die Vorgaben zu exekutieren. Die passenden Beispiele sind dann schnell bei der Hand: die PDS, die sich in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern eifrig müht, aber letztlich doch das Gegenteil dessen tut, was in ihrem eigenen Programm steht, Präsident Lula in Brasilien oder eben Rot-Grün in Berlin. Ist diese Diagnose richtig? Kann Politik tatsächlich nichts? Dass in den Kommunen und in den Bundesländern kaum noch eigene Akzente gesetzt werden können, ist nicht zu übersehen. Auch die nationale Exekutive ist Beschränkungen unterworfen, die sie zu beachten hat. Die Entwicklung der Weltwirtschaft, die Kompromisse in der EU, die Europäische Zentralbank, die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat – sie alle fordern ihren Tribut.
Aber innerhalb des Landes ist die Bundesregierung nach wie vor der Spieler mit dem größten eigenen Gewicht. Sie initiiert Gesetze, bestimmt den Haushalt, der zwar kaum auf Jahresbasis, wohl aber innerhalb einer Legislaturperiode beeinflusst werden kann. Mit der Trägheit von Verwaltungen muss jede Regierung rechnen, aber geschickt geführt, fügen sie sich dann doch. Nicht zu vergessen, Kanzler und Minister sind in den Medien ständig präsent: Sie könnten sich durchaus artikulieren, wenn sie ein eigenes Profil anzubieten hätten. Und wenn dieses Profil tatsächlich eines der sozialen und ökologischen Modernisierung wäre, könnten sie mit einer breiten Zustimmung rechnen.
Wenn man sich für einen Augenblick dieses verschenkte Handlungs- und Machtpotenzial vor Augen führt, ist das rot-grüne Scheitern keine Selbstverständlichkeit, keine logische Folge des kapitalistischen Gangs der Dinge, sondern ein erklärungsbedürftiger Tatbestand. Von Intellektuellen ist zu hören, die Sozialdemokraten hätten keinen eigenständigen Ansatz für die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. So richtig solche Hinweise sind, so sehr formulieren sie doch Maßstäbe, denen gegenwärtig keine politische Partei gerecht werden kann. Seien wir also bescheidener und messen SPD und Grüne an ihrem eigenen Maß. Schwule dürfen vors Standesamt treten, überall drehen sich Windräder, und den einen oder anderen außenpolitischen Pluspunkt wird man Schröder und seinem Kabinett zurechnen dürfen. Aber wirtschafts-, sozial- und steuerpolitisch waren die rot-grünen Jahre ein Fiasko, dessen Spätfolgen noch gar nicht abzusehen sind. Blind den herrschenden Problemdefinitionen folgend sind die ministerialen Gestalten in eine Sackgasse gerannt, aus der sie nur mit Kanzlersturz und Richtungswechsel herauskommen könnten.
Wer den medial inszenierten Vierklang „Zu hohe Steuern und Abgaben = schrumpfende Gewinne = kaum Investitionen = hohe Arbeitslosigkeit“ widerstandslos akzeptiert, muss dann zwangsläufig bei Rezepten enden, wie sie in dem berühmten Kanzlerpapier standen, mit dem Schröder Ende 2002 seine Partei auf den drei Monate später verkündeten Agenda-Kurs einschwor: „Der Königsweg für mehr Vertrauen und Beschäftigung ist eine Absenkung der Steuer- und Abgabenbelastung.“
Dieser scheinbar harmlose Satz enthält die ganze Idiotie des rot-grünen „Reformwerks“. Denn bereits damals, nach den Steuersenkungsexzessen der ersten vier Jahre dieser Regierung, waren nicht mehr Arbeitsplätze, sondern verringerte Einnahmen des Staates das einzige sichtbare Resultat der Geschenke an Großunternehmen und Vermögensstarke. Statt nun innezuhalten, volkswirtschaftlichen Rat zu suchen und die eigene Politik kritisch zu bilanzieren, verschärft der Kanzler das Tempo. Für sozialdemokratische Stammwähler sind die Konsequenzen grotesk. Die Altersbezüge werden erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik real gesenkt, während die Lebensversicherer, die in den vergangenen drei Jahren über 100 Milliarden Euro an der Börse verbrannt haben, mit der Hilfe des Kanzlers rechnen können. Patienten tragen die Last der Gesundheitsreform, während Pharmaindustrie und Ärzte weitgehend geschont werden. Die Leistungsbezüge von Arbeitslosen werden stärker beschnitten werden als je zuvor, während Einkommensmillionäre mittels Steuersenkung einen Scheck über mehrere 10.000 Euro erhalten.
Was Schröder praktiziert, ist nicht nur der Abschied von sozialdemokratischer Politik, sondern die Aufgabe jedweden politischen Anspruchs, die freiwillige Selbstentmachtung. Das Schulterklopfen von BDI-Chef Rogowski – Sie sind auf dem richtigen Weg, Herr Bundeskanzler, halten Sie durch – ist der passende symbolische Akt. Aus dem Totengräber des Kapitalismus von einst, zwischenzeitlich zum Arzt an seinem Krankenbett mutiert, ist in der Ära Schröder eine billige Hure geworden, die für ihre Dienste kaum noch einen Preis zu verlangen wagt.
Was aus dem Totalversagen der sozialdemokratischen Führung folgt, scheint auf der Hand zu liegen: eine neue Partei, die das verlassene Terrain besetzt, oder zumindest eine wahlpolitische Alternative. Wenn man die Stimmungen in der Bevölkerung optimal bündelt, mag der Sprung ins Parlament gelingen. Aber am Lauf der Dinge wird sich dadurch wenig ändern: die Hure muss gehen, und die Geliebte kommt zu ihrem Recht. Ihr fallen nicht nur politisch die Früchte der rot-grünen Prostitution in den Schoß, sondern auch die moralischen. Denn nebenbei – fast unbemerkt – ist im Gemeinwesen Bundesrepublik, auch regierungsamtlich, die Beweislast auf geradezu amerikanische Weise umgedeutet worden: Wer nicht zu recht kommt, ist selbst schuld. Eine bessere Vorlage für konservative Politik gibt es nicht.