MEHR GERECHTIGKEIT WAGEN UND DEN AUFSCHWUNG FESTIGEN Vielleicht die Formel für einen neuen Konsens, der die Ära permanenten Lohndrucks hinter sich lässt
Ungewohnte Zahlen sind zu lesen, erstaunliche Töne sind zu hören. Das Land, das in einer Dauerstagnation versunken schien, bewegt sich doch. Erstmals seit langer Zeit steigen in diesem Jahr nicht nur Gewinne und Exporte, sondern auch die Beschäftigung und die inländischen Investitionen in nennenswertem Umfang. Wer allerdings jetzt schon von einem nachhaltigen Aufschwung spricht, vergisst die beiden entscheidenden Komponenten: steigende Löhne und neue Einsichten im Establishment. Nur wenn bei den bisherigen Reformpredigern und Lohndrückern die Bereitschaft wächst, den Spielraum für höhere Masseneinkommen tatsächlich zu nutzen, wird die Basis des Aufschwungs breiter.
Signale, die in diese Richtung deuten, sind durchaus zu vernehmen. Angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer und Verteilungsgerechtigkeit – diese alten Vokabeln der Gewerkschaften sind selbst für konservative Politiker kein Tabu mehr, und von Unternehmerverbänden hört man merkwürdig konziliante Töne. Alles nur eine rhetorische Wende, eine Anpassung an aktuelle Stimmungen? Oder erste Zeichen eines neuen Konsenses, der bei der Verantwortung von Politik und Unternehmen andere Akzente setzt und berücksichtigt, dass Strukturreformen nicht zum Konjunkturkiller werden sollten?
Während der trostlosen Schröder-Zeit galt der Leitsatz, dass nationale Regierungen wenig, eigentlich gar nichts bewirken können, wenn es um die Konjunktur geht. Sie können bestenfalls, so wurde behauptet, die Zwänge der Globalisierung moderieren und dafür sorgen, dass Löhne, Steuern und Abgaben sich auf einem Niveau bewegen, das den Unternehmen nicht den Appetit verdirbt. Im scharfen internationalen Wettbewerb müsse der Staat die Rolle des Kostenhüters annehmen und auf eine aktive Gestaltung der volkswirtschaftlichen Ströme verzichten. Solchen Weisheiten blind ergeben, überzeugt von ihrer konjunkturellen Impotenz und ihrer kostensenkenden Mission, haben SPD und Grüne einen Negativrekord an den anderen gereiht und damit unfreiwillig gezeigt, dass der Staat als Konjunkturbremse durchaus mächtig ist. Und doch sind sie immer wieder entschuldigt worden, weil sie – mutig, sehr mutig – getan haben, was zwar nicht populär, aber angeblich doch richtig war.
Seitdem die Nachrichten besser werden, zeigt sich die andere Seite des großen Kindergartens Bundesrepublik. Nun ist Politik plötzlich auch im positiven Sinne konjunkturrelevant und in machen Kommentaren sogar omnipotent. Nur nach dem Verursacher wird noch geforscht. War es Merkel allein oder die große Koalition insgesamt oder gar ein verspäteter Effekt von Schröders Mut? Die Dummheit der Fragen kennt keine Grenzen.
Der aktuelle Aufschwung ist leicht zu erklären, wenn man die in Deutschland bis vor kurzem üblichen Deutungsmuster vollständig ignoriert. Dass die Weltkonjunktur mit mehrjähriger Verspätung auch bei uns ankommt, hat nichts mit dieser oder jener Reformpolitik zu tun, sondern mit ihrer Abwesenheit. Schon die letzten Monate der rot-grünen Zeit, als praktisch nicht mehr regiert wurde, waren besser als die „Agendajahre“ zuvor. Die große Koalition hat diese „Reformpause“ verlängert und darauf verzichtet, die von außen kommenden Impulse zu zerstören. Keine strikte Haushaltskonsolidierung, Investitionsanreize ohne Gegenfinanzierung, keine weiteren Hiobsbotschaften à la Hartz IV, ein bisschen mehr Neutralität im Verteilungskampf – diese Passivität hat dazu beigetragen, dass sich die Normalität des Konjunkturzyklus, Aufschwung inklusive, wieder durchsetzen konnte.
Ob sich die aktuell gefeierten Zahlen zu einem stabilen Trend verdichten, ist ab Jahresbeginn 2007 die große Frage. Denn dann beginnt wieder das alte Spiel mit einer bekannten und drei unbekannten Variablen. Bekannt ist, dass die Bundesregierung den privaten Haushalten mit der Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent, mit der Halbierung des Sparerfreibetrages, mit der Abschaffung der Eigenheimzulage, mit der Absenkung der Entfernungspauschale und mit dem absehbaren Anstieg der Beiträge zur Kranken- und zur Rentenversicherung rund 30 Milliarden Euro jährlich entziehen wird. Nach 18 Monaten relativer Ruhe an jenen Verteilungsfronten, die der Staat beeinflussen kann, drückt also ab 1. Januar ein Bremsklotz mit dem Gewicht von knapp 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf die Antriebskräfte.
Unbekannt ist dagegen, wie lange die Weltwirtschaft noch so schnell wachsen wird wie in den vergangenen drei Jahren und ob die deutschen Exporte weitere Rekordniveaus erreichen. Unbekannt ist auch, ob die inländischen Investitionen ihren überraschend kräftigen Expansionskurs fortsetzen, ob sich bei der Erneuerung und Erweiterung des Maschinenparks ein autonomer Investitionszyklus durchsetzt. Um so wichtiger ist, dass die dritte Unbekannte nicht nur freundliche Zuwendung erfährt, sondern von kräftigen Zuschlägen profitiert.
Wenn im Frühjahr die großen Tarifrunden anstehen, wird sich zeigen, ob den wohlfeilen Sprüchen wirklich Taten folgen. Die Zunahme der Erwerbstätigkeit allein reicht nicht, um die Einkommen zu stützen, zumal von den rund 300.000 Jobs, die in diesem Jahr geschaffen wurden, etwa ein Drittel aus schlecht bezahlter Leiharbeit besteht. Deshalb muss die Lohnenthaltsamkeit, die Anomalie, die den deutschen Unternehmen eine phantastische Wettbewerbsfähigkeit verschafft hat, endlich beerdigt werden. Mehr Gerechtigkeit wagen und den Aufschwung festigen – das wäre die Formel für einen neuen Konsens, der die Ära permanenten Lohndrucks hinter sich lässt. Hätte die Regierung dann noch den Mut, sich in die Qualität des Wachstums einzumischen und für eine tiefgreifende Ökologisierung der Wirtschaftskreisläufe zu sorgen, wäre vielleicht sogar eine lange Welle der Prosperität möglich.