Jenseits von Klinsmann: Fußball ist konzentrierter Ausdruck kultureller Identitäten – ihrer Veränderbarkeit sind enge Grenzen gesetzt

 

Die Zeit drängt, es geht ums Ganze. Vergessen wir die aktuellen Testspiele, die – ob als Alarm oder Beschwichtigung – nur den Skandal verbergen, der als von Anfang an falsche Ideologie entlarvt werden muss. Die Herren Klinsmann, Bierhoff und Löw brauchen gewiss kein Studium von Marx, Adorno und Luhmann, aber sie sollten wenigstens ahnen, dass die Wahrheit des deutschen Fußballs im Systemischen liegt.

Brasilianer und Franzosen werden mit individueller Kunst zum Ensemble. Sie vergemeinschaften sich auf republikanische Weise, als frei aufspielende Bürger, als Tänzer, die selbst dann zueinander finden, wenn der Trainer eine starre Raumdeckung verlangt. Die deutschen Kicker können das nicht und werden es auch nicht lernen. Gegen zweitklassige Gegner mag der eine oder andere Streich gelingen, aber gegen die Großen der Branche bleibt nur der umgekehrte Weg: Über das Räderwerk zum Rad, über das Wir zum Ich, über den gemeinschaftlichen Willen zur individuellen Hingabe, über das Konzept zur Aktion.

Unfrei würde Schiller solche Mannschaften nennen, weil sie nie aufgehen in ihrem Spiel. Besiegte Gegner dagegen sprachen früher von unbändigem Kampfgeist und überlegener Zuordnung. Man kann es auch freundlicher, philosophischer sagen: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hatte immer eine Tendenz zum Gesamtentwurf, zu einer Qualität, die allein aus der Addition ihrer häufig mittelmäßigen Spieler nicht zu erklären ist. Fehlte das spielerische Moment ganz und gar, konnte sie sich wenigstens auf das Fundament ihrer Logik verlassen, auf die zentrale Defensive, die von Willi Schulz über Karl-Heinz Förster bis hin zu Jürgen Kohler immer Weltklasse war. Kamen dann noch – zur Entfaltung des Systems – zwei, drei Techniker hinzu, war die Finalteilnahme sicher.

Nichts von all dem hat Jürgen Klinsmann begriffen. Er kennt weder die geschichtlich begründete Unfreiheit der deutschen Spieler noch ihr Angewiesensein auf einen defensiven Plan. Statt aus den dürftigen Fähigkeiten seiner Auswahl einen Schutzwall zu formen, der irgendwann Mittelfeld und Angriff wieder Sicherheit gibt, der Brasilianern, Italienern und Franzosen gewachsen ist, lässt er sich allein von den Vermarktungsgesetzen leiten, die Angriffsfußball und fernsehtaugliche Nahaufnahmen verlangen. Und so will er „sein Ding durchziehen“, einen neo-offensiven Stil, der uns, den Kennern einer Schönheit, die im Defensiv-Systematischen liegt, den Spaß verdirbt.

Fußball ist der konzentrierte Ausdruck langlebiger Kulturidentitäten. Leider wird dieser Satz von unkundigen Kritikern immer wieder missverstanden. Als ginge es nur um Pathos und Prestige. Die Identität liegt auch in der Sache selbst, in einer Spielweise, die – über Generationen hinweg – ob bei Italienern, Russen oder Holländern, ihre eigene Färbung nicht verliert und nur innerhalb enger Grenzen verändert werden kann. Deshalb feuert Klinsmann, der an der Spitze des deutschen Fußballs genau so unpassend ist wie es in der Politik eine Kanzlerschaft von Guido Westerwelle wäre!

Als sportliches Pendant zur großen Koalition bleibt uns als Retter nur Otto Rehhagel. In der Seele Sozialdemokrat, mit gelegentlichen Aufrufen für die CDU, vor allem aber mit einem sicheren Gespür für den Unsinn, den man in der Politik „tiefgreifende Reformen“ und im Fußball „herzhaften Offensivfußball“ nennt, kann nur er noch für einen WM-Auftritt sorgen, der hiesigen Traditionen entspricht. Er würde sich nicht scheuen, das Rezept seines Sieges bei der Europameisterschaft – die Griechen-Blockade – zu wiederholen. Die aktuelle Wahrheit des deutschen Fußballs lässt sich nicht schön reden, aber aufhellen sehr wohl – mit einem 6-3-1-System und etwas Glück nach dem ruhenden Ball.