Steuern à la Kirchhof: Auf den ersten Blick verlockend, am Ende aber verheerend
Mit Speck fängt man Mäuse, mit Abspecken Wähler. Undurchdringlich kompliziert und manipulationsoffen ist das deutsche Steuersystem. Was also liegt näher, als den absurden Wust von Gesetzen radikal auszudünnen und den verbleibenden Rest in zarten, gut verdaulichen Scheiben zu veredeln? In nicht mehr als 23 Paragrafen hat Paul Kirchhof auf sieben Seiten definiert, wer wann was in welcher Höhe an den Fiskus zahlen soll. Im Zentrum seines Konzepts steht zunächst die „Flat Rate“, der einheitliche Steuersatz von 25 Prozent, dem alle Löhne und Gewinne oberhalb von 20.000 Euro unterliegen sollen. Im Gegenzug möchte Kirchhof möglichst alle bislang gültigen 418 Ausnahmetatbestände streichen und strengere Vorschriften für die Einkommensermittlung erlassen. Neben der drastisch vereinfachten Einkommensteuer, die für natürliche Personen einen Grundfreibetrag von 8.000 Euro, eine Erwerbskostenpauschale von 2.000 und eine verminderte Besteuerung weiterer 10.000 Euro vorsieht, bleiben in Kirchhofs Konzept nur noch zwei Steuerarten: die Erbschafts- und Schenkungssteuer und die Umsatz- beziehungsweise allgemeine Verbrauchersteuer. Entsprechend wirbt Kirchhof mit totaler Transparenz und kompromisslos einfacher Handhabung.
Um nicht in vorschnelle und billige Polemik zu verfallen, ist Kirchhof beim Wort zu nehmen. Was passiert, wenn seine Ideen ungefiltert Wirklichkeit werden? Abgesehen von Nacht- und Schichtarbeitern, die ihren Steuervorteil verlieren, würde sich im unteren Einkommensbereich wenig ändern. Angestellte in den mittleren und vor allem in den höheren Gehaltsgruppen würden summa summarum in erheblichem Maße profitieren, auch wenn der eine oder andere Gestaltungskünstler seine Steuersparmodelle verliert. Der Effekt eines „eins zu eins“ verwirklichten Kirchhof wäre für den Unternehmenssektor eher umgekehrt: Konzerne, die bislang alle Tricksereien zu nutzen wissen und in den vergangenen Jahren durchschnittlich kaum mehr als 15 Prozent Steuern auf den Gewinn zahlten, wären stärker, die meisten Kleinunternehmen dagegen geringer belastet.
Für die Anteilseigner der Kapitalgesellschaften wiederum sind Kirchhofs Vorschläge paradiesisch. Denn der Gewinn soll, in welcher Form auch immer er auftritt, nur beim Unternehmen selbst und bei anschließender Ausschüttung nicht mehr beim Aktionär belastet werden: Dividenden wären steuerfrei. Doppelbesteuerung sei unzulässig, lautet Kirchhofs Begründung, die er auf Vermögenswerte so konsequent anwendet, dass nach seinem Plan auch die auf Immobilien erhobenen Grundsteuern nicht mehr zu zahlen sind. Mit Kirchhof wäre die Bundesrepublik die erste Industrienation, die auf eine Besteuerung des Kapital-, Vermögens- und Immobilienbestandes vollständig verzichtet. Konsequent zu Ende gedacht, müssten irgendwann auch die Gewinne steuerfrei gestellt werden, weil sich Investitionen letztlich aus bereits versteuertem Einkommen speisen. Bei passender Gelegenheit wird Guido Westerwelle diese zwingende Schlussfolgerung aussprechen – und vergessen zu erwähnen, dass dann auch Lohnabhängige nach dem Abzug von Einkommensteuern nicht mehr mit Verbrauchssteuern, also doppelt, herangezogen werden dürfen.
Transparente Steuertarife mit harten, manipulationsfesten Vollzugsvorschriften wären zweifellos ein großer Fortschritt, wenn sie sich zu einem gerechten System fügen würden, das dem Gemeinwesen hinreichende Mittel bietet. Aber hinter den Ideen des Paul Kirchhof lauert eine radikal polarisierte Bürgergesellschaft mit einem ausgehungerten Minimalstaat, der den Reichen und Gebildeten einstweilen noch als kostengünstiger Freiheitsgarant dienen mag, aber die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts verkennt.
Wenn die Steuerprogression fällt, wenn Rentiers aus jeglicher Tributpflicht entlassen werden, wenn folglich, wie Kirchhof explizit fordert, der Staat sich mit geringeren Einnahmen bescheiden muss, dann werden unverzichtbare Vorsorge- und Steuerungsfunktionen nicht mehr im gebotenen Maße erfüllt. Für Kirchhof ist das allerdings keine Verlegenheit, sondern ein philosophisches Prinzip: Der Staat soll sich nicht anmaßen, irgendetwas lenken zu wollen. Er ist Dienstleister und sonst nichts. Sicherheit, Fürsorge für die Bedürftigen und Vorfahrt für die Leistungsträger – so einfach lassen sich in Kirchhofs Weltsicht die zentralen Aufgaben der Politik beschreiben. Aber so passiv, machtlos ist der Staat dann auch, wenn Gefahren zu bewältigen sind, die weder der einzelne Bürger noch der Markt meistern können. Klimawandel? Abkehr vom fossilen und atomaren Wahnsinn? Lenkung des Ressourcenverbrauchs? Steuern auf Energie und Emissionen sind eine Verirrung des Staates und ersatzlos zu streichen, antwortet Kirchhof. Spätestens hier verwandelt sich sein Purismus in ein reaktionäres Dogma.
Sollte Merkels neuer Star tatsächlich Finanzminister werden, dürfte ein äußerst spannender Realitätstest folgen. Dass sein Modell nicht ungeschoren und unmittelbar Gesetz werden kann, weiß er selbst. Angesichts von Haushaltsrestriktionen verwandeln sich große Entwürfe zwangsläufig in kleine Schritte. Aber seine „Vision“ steht im Raum und gilt Konservativen und Liberalen bereits jetzt als Maßstab für „moderne Steuerpolitik“. Lobbyverbände wie der Bund der Deutschen Industrie werden die „Flat Rate“ massiv propagieren und vielleicht genau so in eine Selbstverständlichkeit verwandeln wie es die Steuerprogression jahrzehntelang gewesen ist. Ebenso wahrscheinlich ist, dass Ausnahmen und Privilegien nur symbolträchtig, aber nicht im Kleingedruckten der Bilanzierungsvorschriften gestrichen werden. Am Ende bliebe ein halbierter Kirchhof. Der hochgelobte Professor mit dem verbindlichen Lächeln hätte wider Willen für eine Fortsetzung der katastrophalen rot-grünen Steuerpolitik gesorgt und sich wie Schröder, Clement und Eichel als nützlicher Idiot erwiesen.