Ende einer Fata Morgana: Der besonderen Schwerkraft des gescheiterten „Aufbaus“ wird sich der Westen nicht dauerhaft entziehen können

Déjà vu in Berlin. So beiläufig wie damals, am 9. November 1989, Günter Schabowski die neue Reiseordnung des Politbüros verlas und damit das Ende der DDR verkündete, so nonchalant „beerdigte“ Manfred Stolpe am 19. September 2003 „endgültig“ die Hoffnung auf eine baldige Angleichung der Lebensverhältnisse in West und Ost. Dieses Mal allerdings keinerlei Reaktion von der versammelten Presse. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem Scheitern der „Chefsache Aufbau Ost“? Wann werden Sie, Herr Minister, ein verändertes Konzept vorlegen? Müsste nicht das gesamte Instrumentarium der Wirtschaftsförderung und des Arbeitsmarktes umgestaltet werden, wenn es den Besonderheiten Ostdeutschlands gerecht werden will?

Dass nicht eine einzige dieser Fragen gestellt wurde, zeigt mehr als alle Ostalgie-Shows, dass die Zukunft des Ostens „endgültig“ zur Vergangenheit gehört. Technische Versäumnisse beim Mautsystem sind schließlich wichtiger als die Perspektiven von 15 Millionen Menschen. Man hätte damals auch Schabowski fragen können, ob nicht das Politbüro zurücktreten müsse, weil es im Zugverkehr der DDR immer wieder zu Verspätungen kam.

Natürlich hat Stolpe vollkommen recht, wenn er aus den volkswirtschaftliche Statistiken keine Hoffnung schöpfen mag. Der wirtschaftliche Aufholprozess, der nach den Abwicklungsorgien der Jahre 1990 und 1991 etwa fünf Jahre anhielt, ist längst zur Fata Morgana geworden. Seit 1997 bleiben die Wachstumsraten des Ostens hinter denen des Westens zurück, die privaten und öffentlichen Investitionen schrumpfen, die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit wird im kommenden Winter die 20-Prozent-Marke überschreiten, und die Zahl der unter 30-Jährigen, die nach Westen wandern, erreicht wieder Dimensionen wie zu Beginn der neunziger Jahre.

Wenn nun „Aufbauminister“ Stolpe regierungsamtlich feststellt, dass man sich von Träumen verabschieden müsse, ist diese späte Ankunft in der Realität zunächst zu begrüßen. Schließlich ist die Zeit reif, um – frei von irreführenden Beschwichtigungsformeln – den Bedarf, aber auch das Potenzial einer benachteiligten Region zu diskutieren und nach neuen Wegen zu suchen, die zumindest eine Abwärtsspirale verhindern. Dazu aber schweigt der Minister beharrlich. In seinem neuen Jahresbericht zum „Stand der Deutschen Einheit“ findet sich keine einzige nennenswerte Idee, die über die ausgetretenen Pfade herkömmlicher (gescheiterter) Förderinstrumente hinausgeht.

Nichts hat der wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands in den vergangenen
14 Jahren so sehr geschadet, wie die bedingungslose Anwendung des bundesdeutschen Rechts- und Ordnungsrahmens, die nahezu jedes kreative Experiment alternativer Geldverwendung verhinderte. Und wenn doch einmal ein lokaler Mandatsträger es wagte, Gesetze zu dehnen und Bestimmungen zu umgehen, die einfach nicht passten, waren schnell jene Gesandten mit „Buschprämie“ zur Stelle, die für die überfällige Belehrung sorgten. Die Folgen solcher Weisheiten sind überall zu besichtigen. Gehwege nach DIN-Norm, aber kaum noch Einwohner. Aufwendige Haltestellen ohne Buslinien. Gewerbegebiete als beleuchtete Schafweiden. Hochregallager am Autobahnkreuz ohne jede Verflechtung mit der jeweiligen Region.

Solche Fehlinvestitionen vor Augen sollten die gewählten Vertreter ostdeutscher Kommunen und Länder endlich den Mut finden, ihren westdeutschen Kollegen ins Gesicht zu sagen: Mit Euren verstaubten Rezepten können wir nichts mehr anfangen. Wir leben schon auf dem Planeten, dessen ganz besondere Schwerpunkt Ihr auch noch kennen lernen werdet. Unsere Gegenwart einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung ist Eure Zukunft. Behindert uns nicht, wenn wir beim Rückbau der Städte die Erfahrungen sammeln, die Euch zugute kommen werden. Und wenn sich unsere Unternehmer – notgedrungen, aber auch aus weiser Voraussicht – im kooperativen Verbund, oftmals nur per Handschlag, in die Marktschlacht begeben, dann steht ihnen nicht im Wege. Dass Vertrauen wichtiger sein kann als tausend ausgefeilte Verträge, werden Ihr irgendwann auch wieder begreifen. Schaut nur weiter auf die Äußerlichkeiten, die Eure hochnäsigen Blicke trüben. Selbst im Doppelripp werden wir postmoderner sein als Ihr im feinen Tuch.