Islamismus des Westens: John Grays „Die Geburt al-Qaidas aus dem Geist der Moderne“

Wie lässt sich der islamistische Fundamentalismus begreifen? Als Rückkehr des Mittelalters in die Neuzeit? Als Barbarei inmitten der Aufklärung? Als Aufstand des Religiösen in einer säkularen Welt? Wer so fragt, versteht nichts, behauptet John Gray, Professor für Europäisches Denken an der London School of Economics. Seine Kampfansage an die üblichen Interpretationen lautet: Der radikale Islam ist ein modernes Phänomen, bedient sich nicht nur der Werkzeuge, die der Westen liefert, sondern ist auch „aus dem Geist der Moderne“ entstanden.

Dass Osama bin Laden und seinesgleichen Stinger-Raketen und ferngezündete Plastik-Bomben beherrschen, dass sie in Netzwerken und mit flachen Hierarchien operieren, dass sie also sowohl technologisch als auch organisatorisch auf der Höhe der Zeit sind, wird niemand bestreiten. Aber haben sie jenseits dieser perfiden Perfektion irgendetwas zu bieten, was uns mit ihnen verbindet? Wie sollten sie aus dem Geist der Moderne geschöpft haben, wenn doch alles, was sie tun und predigen, mit gutem Grund archaisch genannt werden kann? Oder haben wir alle das zivilisatorische Potenzial des radikalen Islam übersehen? Des Rätsels Lösung ist einfach: John Gray lockt sein Publikum mit Fragen, die er unter der Hand verwandelt. Er fahndet nicht nach den verborgenen Geistesquellen al-Qaidas, sondern nach dem heimlichen Islamismus des Westens. Sein eigentliches Thema ist der Geist al-Qaidas innerhalb der Moderne.

In welcher Hinsicht könnten der radikale Islam und westliches Denken strukturgleich sein? Sie sind es immer dann, behauptet Gray, wenn sie die bisherige Geschichte als Vorspiel zu einer neuen Welt betrachten, wenn sie mit der Kraft des Willens und der Tat die Menschen bekehren und retten wollen. Dieses Erlösungsmotiv, das bei islamischen Fundamentalisten leicht zu erkennen ist, bestimme auch den Westen – viel mehr, als ihm bewusst sei. Missionarischen Eifer findet Gray in allen wichtigen Traditionen Europas und Nordamerikas: „Die Denker der Aufklärung sehen sich gern als moderne Heiden, aber in Wirklichkeit sind sie heutige Christen. Auch sie zielen darauf, die Menschheit zu erlösen.“ Ob offen religiös präsentiert oder als vorurteilsfreie Rationalität verkleidet, ob bei den französischen Utopisten Saint-Simon oder Fourier, bei den Marxisten, den Nationalsozialisten oder heute beim Projekt „Freier Weltmarkt“ – immer wieder gehe es darum, gewaltsam den Gang der Geschichte zu beschleunigen. Wer über kulturelle Traditionen hinweg geht, wer Einheitsmodelle verordnet, wird aber letztlich, wie die Islamisten, beim Terror landen, meint Gray. Für ihn sind sowohl Stalin als auch George W. Bush Testamentvollstrecker „post-christlicher Kulte“.

Vor 20 Jahren gehörte John Gray noch zum intellektuellen Begleitchor der Thatcher-Revolution in Großbritannien. Mittlerweile ist er einer der schärfsten Kritiker jenes Gesellschaftsmodells, das für ihn nichts anderers ist als eine „totalitäre Utopie“. In seinem Buch False Dawn. The Delusions of Global Capitalism, auf Deutsch 1999 als Die falsche Verheißung erschienen, begründet er, weshalb schrankenlose Liberalisierung ein Mythos bleiben muss: Sie ist weder auf Dauer noch friedlich durchzuhalten. Die vergangenen Jahre haben Grays Prophezeiung eindrucksvoll bestätigt. Sarkastisch auf eine berühmte Formulierung aus Sowjetzeiten anspielend, schreibt er, dass die USA nur noch „Globalisierung in einem Land“ betreiben.

Im Überschwang des eigenen Triumphs begibt sich Gray nun allerdings auf ein Terrain, auf dem er sich nicht auskennt, und formuliert darüber hinaus eine Anklage, die in ihrem tiefen Schwarz allen Denkern des Westens die Farbe nimmt. Abgesehen von einigen Anmerkungen zum ägyptischen Islam-Gelehrten Said Qutb, der die Idee der revolutionären Avantgarde importiert und bei dessen Bruder einst Osama bin Laden in Dschiddah studiert haben soll, bleibt nicht nur der Geist der Moderne unkenntlich, der angeblich al-Qaida inspiriert. Selbst wenn man Gray zugesteht, dass für ihn al-Qaida nur ein Vorwand ist, um den Erlösungseifer und den latenten Terrorismus im westlichen Denken zu erkunden, ist sein neues Buch bestenfalls eine originelle Karikatur. Denn in der gesamten Ahnenreihe europäischer Philosophie, ob konservativ, liberal oder revolutionär, sieht er immer nur das, was er selbst hinein projiziert: eine Mischung aus Jesus Christus und Adolf Hitler.

Wenn es außer diesem Gespann nichts gäbe, dann wäre Aufklärung tatsächlich nur eine Barbarei, die sich selbst heilig spricht. Bei Adorno hat man so etwas schon mal gehört. John Gray geht noch einen Schritt weiter: „Vom Bewusstsein unterdrückt tritt die apokalyptische Leidenschaft der Religion als Projekt universaler menschlicher Emanzipation wieder zu Tage.“ Das aber hieße: „Der Konflikt zwischen al-Qaida und dem Westen ist ein Religionskrieg.“ Glaube gegen Glaube – das wäre die Schlachtordnung. Es ginge nicht um Macht und Ressourcen, um Selbstbestimmung und Dominanz, sondern um wechselseitige Bekehrung. Spätestens hier wird John Gray zum Opfer seiner grandiosen Konstruktion, die ihn nur noch in den Kategorien von Jihad und Kreuzzug denken lässt. Der blinde Furor, den er allen anderen unterstellt, tobt vor allem dort, wo er ihn nicht vermutet: in seinem eigenen Kopf. Und so bleibt abschließend nur eine hilflose Empfehlung: Wir müssen den Paulus in uns überwinden und wieder zum heidnischen, gelassenen Saulus werden.

John Gray, Die Geburt Al-Qaidas aus dem Geist der Moderne, Antje Kunstmann Verlag, 148 Seiten, EUR 24,90
ISBN 3-88897-354-6