März 2003
Schröders ungehaltene Rede: Was der Kanzler gesagt hätte, wenn er zur Vernunft gekommen wäre
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Dass wir in Deutschland, in Europa und in der Welt vor großen und zum Teil ganz neuen Herausforderungen stehen, muss niemand mehr betonen. Unmittelbar vor uns liegt die Aufgabe, die Irak-Krise friedlich zu lösen. Natürlich können wir diejenigen, die Saddam Hussein zum Anlass nehmen, um ihre Politik der Vorherrschaft und der globalen Ressourcenkontrolle durchzusetzen, letztlich nicht an einem Angriff hindern. Um so mehr werden wir alles tun, was in unserer bescheidenen Macht steht. Sie können versichert sein, dass wir die Lehren aus unserer Verstrickung in die Bombardierung Jugoslawiens vor vier Jahren, im Frühjahr 1999, gezogen haben. Nie wieder darf sich die Atlantische Allianz, nie wieder dürfen wir uns zu einem aggressiven Handeln gegen einen souveränen Staat in Europa und in der Welt hinreißen lassen.
Ich weiß, meine Damen und Herren, dass nicht alle unsere Partner diese Auffassung teilen, doch darf das für uns kein Anlass mehr sein, von einem Grundsatz abzurücken, den die politische Vernunft wie auch der Respekt vor der Unversehrtheit menschlichen Lebens gebieten. Gemeinsam mit Frankreich und anderen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates stimmen wir daher gegen die Ermächtigung zu einem Krieg, der nichts anderes wäre als ein Massaker an der irakischen Zivilbevölkerung. Gemeinsam mit der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung sage ich vor diesem hohen Hause: Kein Blut für Öl!
Wir wissen aus eigener Erfahrung, was Bomben, Zerstörung und Verlust der Heimat für die Menschen bedeuten. Und wir wissen auch, welche verheerenden Folgen die Allmachtsphantasien von Regierungen und ihrer industriellen Hintermänner haben können. Wir können nicht akzeptieren, dass ein einzelnes Land sich das Gewaltmonopol über diese Erde aneignen und damit sämtliche Normen des Völkerrechts über Bord werfen will. Im Zeitalter der Globalisierung kann es nur kollektive Sicherheit geben.
Kollektive Sicherheit muss aber auch, wenn sie dauerhaft sein soll, auf dem Fundament der Gerechtigkeit ruhen. Und deshalb sage ich Ihnen: So wie es noch vor einem Jahr als Ding der Unmöglichkeit erschien, der westlichen Führungsmacht in einer zentralen weltpolitischen Frage zu widersprechen, aber die Vernunft gebot, es eben doch zu tun, so sollte es für uns heute auch kein Tabu mehr sein, den Dogmen des Neoliberalismus zu misstrauen. Wie lange wollen wir noch hinnehmen, dass Währungsspekulanten und Investmentfonds ganze Volkswirtschaften zerrütten? Wir Politiker in den Industrieländern sollten uns endlich eingestehen, dass wir auf dem Pfad der Liberalisierung und Privatisierung seit Jahren in die falsche Richtung gehen. Wer die Schwächsten dieser Welt ungeschützt der Gier multinationaler Unternehmen aussetzt, wer dazu beiträgt, dass die Reichtümer des Südens systematisch enteignet werden, wer die Eliten dieser Länder erpresst und besticht, handelt nicht nur unmoralisch, sondern zerstört auch die Zukunft unseres Planeten, weil wir die großen Zukunftsaufgaben auf der Basis von Chaos und Verarmung nicht lösen können.
Meine Damen und Herren!
Wir müssen das Verhältnis von Markt, Staat und Zivilgesellschaft neu ausloten, wir müssen neue Freiräume schaffen und Gerechtigkeit organisieren – in der Welt insgesamt, aber auch bei uns im eigenen Land. Was ist bei uns das drängendste Problem? Der ausufernde Sozialstaat? Die lähmende Bürokratie? Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit und wie Sie es von mir nicht erwartet haben: Unser größtes Problem ist die zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Vielen in unserem Land geht es gut. Sie profitieren von den Chancen der Globalisierung, haben gesicherte berufliche Perspektiven und hohe, manche sogar phantastisch hohe Einkommen. Aber es gibt auch allzu viele, die aus diesem Prozess herausfallen oder bereits herausgefallen sind.
Mehr als 4,7 Millionen Menschen ohne Arbeit sind offiziell registriert. Rechnen wir diejenigen hinzu, die entweder Qualifizierungsmaßnahmen durchlaufen oder vom Arbeitsamt nicht mehr erfasst werden, haben wir eine Beschäftigungslücke von etwa sieben Millionen Arbeitsplätzen. In einigen Arbeitsamtsbezirken Ostdeutschlands ist fast jeder Dritte arbeitslos. Diese Zahlen sind auch für mich ernüchternd. Angesichts des Leids von Millionen verbietet sich jede Beschönigung. Produktionspotenziale liegen brach. Im vergangenen Jahr waren die industriellen Kapazitäten nur zu 82 Prozent ausgelastet. Wir leben also nicht über, sondern unter unseren Verhältnissen.
Meine Damen und Herren!
Dass wir schnell und konsequent handeln müssen, steht außer Frage. Doch zunächst brauchen wir eine schonungslose und aufrichtige Diagnose. Genau so wie wir uns in der Außenpolitik dazu durchgerungen haben, den Realitäten ins Auge zu sehen und einem durch nichts gerechtfertigten Kriegskurs zu widersprechen, so sollten wir uns auch in der Innenpolitik nicht von Hysterie und Untergangsszenarien leiten lassen. Schauen wir uns doch der Reihe nach an, welcher Irrsinn bei uns mittlerweile herrscht und welche absurden Rezepte angeboten werden.
Immer wieder wird gesagt, die Löhne seien zu hoch. Die angebliche Macht der Gewerkschaften soll gebrochen, die Flächentarifverträge möglichst abgeschafft werden. Wie aber ist zu erklären, dass unser Land im vergangenen Jahr in der Handelsbilanz einen Rekordüberschuss von 127 Milliarden Euro erzielte und mit seinen Produkten auf den Weltmärkten bestens vertreten ist? Das von einigen immer noch gepriesene Musterland USA brachte es im gleichen Jahr auf ein Außenhandelsdefizit von 476 Milliarden Dollar. Warum sollten bei uns die Löhne und Gehälter zu hoch sein, wenn doch seit Jahren die Lohnstückkosten, mit denen die Lohnbelastung zwischen Volkswirtschaften verglichen werden kann, in Deutschland rückläufig sind? Wir sind international so wettbewerbsfähig wie kaum eine andere Volkswirtschaft. Die Arbeitseinkommen, die bei uns durchschnittlich gezahlt werden, sind Ausdruck unserer hohen Produktivität, und es besteht keinerlei Grund, sie immer wieder in Frage zu stellen. Statt Aufweichung der Tarifverträge brauchen wir einen deutlichen Abbau von Überstunden und eine Verringerung der tariflichen Arbeitszeiten in Ostdeutschland.
Wir müssen die Kräfte des Marktes freisetzen und die Staatsquote unter 40 Prozent senken, so lautet eine andere Empfehlung. Hat die Staatsquote tatsächlich irgendetwas mit Beschäftigung und Wachstum zu tun? Schauen sie sich Japan an. Obwohl dort Steuern und Abgaben nur ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, stagniert das Land seit mehr als zehn Jahren. Was ist mit Dänemark und Schweden? Die Staatsquote liegt höher als bei uns, und trotzdem haben diese Länder ihre Arbeitslosigkeit nahezu halbiert. Wenn wir nur die Steuerquote betrachten, dann liegt die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich der Industrieländer mittlerweile mit knapp über 20 Prozent im unteren Drittel. Von einer zu hohen Steuerlast zu sprechen, ist pure Demagogie. Nicht die durchschnittliche Steuerlast, sondern ihre Verteilung ist das Problem.
Meine Damen und Herren!
Wir alle, auch die Sozialdemokraten, das sage ich ausdrücklich, haben uns von der unsinnigen Vorstellung blenden lassen, dass die Entlastung der Unternehmen und der vermögenden Bürger Investitionen anregen und Arbeitsplätze schaffen wird. Diese Rechnung ist komplett gescheitert. Die Kapitalgesellschaften waren in den vergangenen Jahren so gering belastet wie nie zuvor in der Geschichte unseres Landes. In 2001 haben sie per saldo sogar 426 Millionen Euro Körperschaftsteuer vom Staat zurück erhalten. Statt eines Aufschwungs erleben wir den Ruin kommunaler Kassen. Statt für neue Jobs zu sorgen, fließt das Geld auf die Finanzmärkte. Wenn Schwimmbäder, Jugendzentren, Sozialstationen und Theater geschlossen werden und wenn andererseits so mancher sich fragt, wo der dritte Porsche geparkt werden kann, dann ist etwas faul in unserem Land.
Realismus in der Steuerpolitik heißt Wiedereinführung der Vermögensteuer und Rückkehr zu dem bewährten Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, so dass die öffentlichen Aufgaben umfassend wahrgenommen werden können und wieder solidarisch finanziert werden. Und Realismus heißt auch: Beseitigung sämtlicher Vergünstigungen, Schlupflöcher und Gestaltungsspielräume. Wir sollten zu einer Steuerreform bereit sein, die mit den Wahnvorstellungen der vergangenen 20 Jahre bricht und den Gesetzesdickicht radikal beseitigt. Schon in Kürze werden wir einen Gesetzentwurf einbringen, der für sämtliche Einkommen, für Löhne und Gehälter, aber auch für Gewinne und Zinsen einheitliche, durchschaubare und nachvollziehbare Steuertarife vorsieht, die progressiv von fünf auf 45 Prozent ansteigen. Diese nominalen Steuersätze werden zugleich auch die realen Steuersätze sein, weil wir alle bisher bestehenden Möglichkeiten des Steuerabzugs ersatzlos streichen wollen. Den Steuerberatern, die sich mit Recht von diesem Gesetzentwurf bedroht fühlen, rufen wir zu: Lassen Sie sich umschulen zu Steuerfahndern. Sorgen Sie dafür, dass Hunderte von Milliarden Euro nicht länger den öffentlichen Haushalten entzogen werden. Statt im Interesse Ihrer Klientel das Gemeinwesen zu unterwandern, bieten wir Ihnen die Chance, die Zukunft unseres Landes zu sichern.
Meine Damen und Herren!
Ich komme zu dem dritten Problem, das uns diesen Wochen und Monaten besonders beschäftigt. Im Unterschied zu Steuern und Löhnen ist die Höhe der Sozialabgaben, der Lohnnebenkosten, tatsächlich zu einer Frage geworden, mit der wir uns ernsthaft auseinandersetzen müssen. Mit unserer spezifisch deutschen Tradition, den Sozialstaat überwiegend an den Faktor Arbeit zu koppeln, geraten wir in eine Sackgasse, wenn mit der Arbeitslosigkeit zwangsläufig auch die Sozialabgaben steigen. Bei einer tiefen Rezession käme dieses Modell tatsächlich in große Bedrängnis. Wie wir darauf reagieren sollten, ist für die meisten Beobachter mittlerweile keine Frage mehr. Leistungen kürzen und Privatvorsorge stärken, so ist es fast überall zu lesen. Diese Strategie allerdings vertieft die Spaltung der Gesellschaft. Das ist nicht mehr meine Politik.
Es gibt weit bessere Alternativen: Wir sollten endlich alle Bürger dieses Landes, auch die Beamten und Selbständigen, an der Finanzierung des Sozialstaates beteiligen und auch die Zinseinkünfte einbeziehen. Solidarität muss für alle Bürger und alle Einkommensarten gelten. Mit einer solchen Jahrhundertreform würden wir den Sozialstaat an die gesamtwirtschaftliche Entwicklung koppeln und sowohl Unternehmen als auch Beschäftigte entlasten. Die Prophezeiung der Arbeitgeberverbände, dass eine einprozentige Senkung der Lohnnebenkosten zu 100.00 neuen Arbeitsplätzen führen würde, könnten wir dann endlich testen. Und warum sollten wir nicht die Sozialabgaben der Unternehmen, die bislang an die Lohnsumme gebunden sind, an die Wertschöpfung koppeln. Diesen Vorschlag, der zwischen kapitalintensiven und beschäftigungsintensiven Unternehmen für einen Ausgleich sorgt, sollten wir endlich aufgreifen. Wenn wir es schaffen, den Kreis der Beitragszahler erheblich zu erweitern und damit die Einnahmeseite der sozialen Sicherung nachhaltig und auf gerechte Weise zu konsolidieren, dann hätten wir auch endlich eine Basis, um über Leistungen und Ansprüche vernünftig zu diskutieren.
Meine Damen und Herren!
Wir stehen in der deutschen Politik vor einer grundlegenden Weichenstellung. Entweder wir gehen weiter auf dem Weg der Steuergeschenke, des Sozialabbaus, des Tolerierens von Massenarbeitslosigkeit und damit der Spaltung unserer Gesellschaft oder wir besinnen uns darauf, dass Demokratie und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille sind. Ich habe in den vergangenen Monaten gelernt, dass man selbst die bittersten Vorwürfe des Verrats und der Gefährdung nationaler Interessen aushalten kann, wenn man die öffentliche Meinung hinter sich weiß. Im Lichte dieser einmaligen Erfahrung ist mir klar geworden, dass wir auch in der Innenpolitik einen Politikwechsel brauchen, der sich auf die Mehrheit des Volkes stützt. Ich habe Ihnen, meine Damen und Herren, dargelegt, worum es geht: eine gerechtere Verteilung der Arbeit, eine einheitliche und lückenlose Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit und ein breiteres Fundament für den Sozialstaat. Wenn wir diese Reformen umsetzen, hätten wir gute Chancen, die Arbeitslosigkeit drastisch zu senken. Statt ohne Sinn und Verstand unsere Gesellschaft allmählich zu zerstören, sollten wir uns wieder an den Bedürfnissen unserer Bürger und an den globalen Herausforderungen orientieren. Um kurzfristig handeln zu können, habe ich mit dem Präsidenten der Französischen Republik bereits vereinbart, dass wir uns nicht nur dem Diktat der Vereinigten Staaten, sondern auch der Zwangsjacke der Europäischen Zentralbank widersetzen. Mit großer Genugtuung darf ich feststellen: Das, was Sie heute von mir hören wollten, brauchen wir nicht mehr. Kein Blut, kein Schweiß, keine Tränen. Ich danke Ihnen.