Belgien: Flämische Sozialisten organisieren erfolgreich die Einkaufsmacht der Stromkunden
Von Rudy Mondelaers und Hans Thie
Wie in Deutschland so in Belgien. Die Energiekosten für die privaten Verbraucher steigen. Von 2007 bis Anfang 2012 gab es satte Preiserhöhungen für belgische Haushalte: plus 30,5 Prozent beim Strom und plus 38,4 Prozent beim Erdgas. Betriebliche Abnehmer dagegen zahlen heute nicht mehr als vor fünf Jahren, im Durchschnitt sogar etwas weniger.
Wer jagt die Preise nach oben? Bislang vor allem der französische Konzern Elektrabel/Suez, der in den vergangenen Jahren mehr als 70 Prozent des belgischen Strommarktes beherrschte. Neben diesem Quasi-Monopol gibt es weitere Preistreiber. Die regionalen und kommunalen Stromverteiler pflegen eine undurchsichtige Tarifbildung. Große Industriebetriebe beziehen Strom unter Kostpreis. Das belgische System der grünen Energiezertifikate macht Photovoltaik und Windstrom unnötig teuer. Das Hauptproblem aber ist die Krake Elektrabel. Das Unternehmen koppelt seine Marktmacht mit Steuertricks und manipulierten Abschreibungen bei Atomkraftwerken. So entstehen Milliardengewinne, auf die kaum Steuern zu zahlen sind.
Muss man all das einfach hinnehmen? Nein, es geht auch anders, sagte sich Johan Vande Lanotte. Der 57-jährige flämische Sozialist, der eine langjährige Ministerkarriere hinter sich hat und heute belgischer Vizepremierminister ist, setzt auf die Kraft der organisierten Konsumenten. Stromsparen, Sozialtarife und mehr Transparenz sind gut, aber reichen bei weitem nicht. Mit dieser Schlussfolgerung startete Vande Lanotte vor drei Jahren in seiner Heimatprovinz Westflandern eine eigene Initiative. Zusammen mit dem Gewerkschaftsbund ABVV und der Krankenkasse Bond Moyson gründeten Vande Lanotte und seine SP.A (flämische Sozialistische Partei) die Einkaufsgemeinschaft “Samensterker” (Zusammen stärker). Kollektiv grünen Strom einkaufen und durch Massennachfrage die Preise senken – das war die Idee.
Heute ist diese Idee eine ganz Flandern umfassende Großkampagne mit spektakulärem Erfolg. Und mit internationaler Ausstrahlung: Nachdem die BBC über Samensterker berichtet hatte, will nun auch die britische Labour Party die „Consumer Power“ ins Spiel bringen. Nur in Deutschland – eigentlich nah und doch weit weg – scheint niemand die belgische Preisrevolution zu kennen.
Gemeinsam gegen Tarifterror
Samensterker hat eine denkbar einfache Struktur. Zunächst wurde mittels öffentlicher Ausschreibung eine Firma gefunden, die Anmeldungen interessierter Kunden sammelt, den kollektiven Bedarf errechnet und anschließend eine Online-Auktion für grünen Strom bei den Energielieferanten organisiert. Technisch wird der gesamte Einkauf über das Internet abgewickelt.
Entscheidend für das Gelingen der Einkaufsgemeinschaft war eine durchdachte Kampagne. Denn spürbare Preisrabatte sind nur zu erreichen, wenn möglichst viele Leute mitmachen. Ton und Art der Kommunikation müssen stimmen. Die Menschen haben Angst, dass die Stromlieferung vielleicht nicht klappt, wenn sie den Lieferanten wechseln. Deshalb ist die erste Registrierung bei Samensterker unverbindlich. Man bekundet per Internet sein Interesse. Wer mit einer Online-Anmeldung nicht zu Recht kommt, kann Info-Veranstaltungen besuchen, die von Mitgliedern der Sozialistischen Partei angeboten werden. Die Genossinnen und Genossen übernehmen die nötigen Formalitäten und machen dadurch gleichzeitig Werbung für ihre Partei.
Ist die Zahl der Interessenten groß genug, organisiert die von Samensterker beauftragte Firma die Grünstrom-Auktion. Die Stromproduzenten und Stromhändler können dann ihre Angebote nach unten ausreizen und niedrige Tarife anbieten. Dass der ausgewählte Lieferant später wirklich grünen Strom liefert, garantiert die VREG, die flämische Regulierungsbehörde für den Strom- und Gasmarkt.
Nachdem das günstigste Auktionsgebot für den Gesamtbedarf ausgewählt worden ist, folgt der letzte Schritt. Alle Interessenten, die sich bei Samensterker registriert haben, erhalten ein persönliches Vertragsangebot. Ihnen wird mitgeteilt, wie viel Geld sie im Verhältnis zum sonst üblichen Marktpreis sparen. Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden dann definitiv, ob sie umsteigen wollen oder nicht. Den Rest erledigt wiederum die Firma, die von Samensterker anfangs als permanent zur Seite stehender Dienstleister gewonnen wurde.
Bereits der erste gemeinsame Einkauf war Anfang 2010 ein großer Erfolg. Die 8.300 Teilnehmer konnten sich über eine jährliche Einsparung von durchschnittlich mehr als 200 Euro freuen. Unmittelbar danach startete in Westflandern eine zweite Aktion des Kollektivkaufs mit 11.000 Haushalten. Inzwischen hatte sich der Erfolg herumgesprochen, und im Mai 2011 folgten die sozialistischen Parteigliederungen der Provinzen Brabant und Limburg mit ihrer eigenen Initiative namens „Samen Stroom“ (Strom zusammen). Wiederum unterstützt von Krankenkassen und Gewerkschaften waren dieses Mal schon 18.000 Haushalte dabei. Eine weitere Kaufgemeinschaft in der Provinz Ostflandern („Samen gaan we groener“ – zusammen grüner) erreichte sogar eine Beteiligung von 30.000 Haushalten und zusätzlich von 62 Kommunen.
Wenn Gemeinden und Provinzen mitziehen
Mit den Kommunen im Boot erreichte die Kampagne eine ganz neue Qualität. Denn schon kurze Zeit später wollten auch die Provinzverwaltungen mitmachen, zumindest unterstützen. Seit Ende 2011 laufen in sämtlichen flämischen Provinzen gemeinsame Kaufaktionen, und die Provinz- und Gemeindeverwaltungen sind entweder selbst beteiligt oder helfen zumindest mit.
So spektakulär der Erfolg heute erscheint – ein Automatismus war er nicht. So musste beispielsweise Inga Verhaert, SP.A-Vertreterin in der Regierung der Provinz Antwerpen, die von ihr auf den Weg gebrachte Einkaufsaktion anfangs gegen alle anderen Parteien der Provinzregierung durchdrücken. Das gelang erst, als 65 der 70 Bürgermeister der Provinz Inga Verhaert den Rücken stärkten. Das erhöhte seinerseits die Beteiligung enorm. Denn, so Inga Verhaert: „Das Vertrauen der Bürger in eine öffentliche Behörde ist doch von anderer Art als das Vertrauen zu einer Partei.“
In Antwerpen geht es dann Schlag auf Schlag. Erste Aktion noch im Jahre 2011: 12.000 Haushalte und eine durchschnittliche jährliche Ersparnis von 225 Euro. Zweite Aktion Anfang 2012: 40.000 Kunden sind dabei und erstmals wird – neben dem Strom – auch Gas gemeinsam eingekauft. Die dritte Antwerpener Aktion steigert im September 2012 nochmals die Teilnehmerzahl auf 60.000.
Auch in den anderen Provinzen geht die Preisrevolution von unten weiter. Im Mai 2012 entsteht in Ostflandern ein Einkaufs-Pool mit mehr als 50.000 Kunden, in Westflandern mit 45.000 (knapp zehn Prozent aller dortigen Haushalte) und in Brabant mit 29.000. Und noch beeindruckender ist, dass jetzt 501 von insgesamt 589 flämischen Gemeinden offiziell einbezogen sind.
Selbst Unternehmen entdecken die Vorteile kollektiver Einkaufsmacht. In Westflandern haben sich 2.172 Kleinfirmen registriert, um gemeinsam Strom und Gas zu beziehen. In Antwerpen und Ostflandern organisiert die sozialistische Partei nun sogar den gemeinsamen Einkauf von Dachisolationen und Solarpaneelen.
Die Energiekampagne bestimmt die Energiepolitik
Was Johan Vande Lanotte vor drei Jahren begann, prägt mittlerweile auch ganz unmittelbar die belgische Energiepolitik. Die Kampagne hat gezeigt, dass man die Konzernmacht unterwandern kann. Diese Botschaft setzt auch die belgische Regierung unter Druck. Sie verfügte beispielsweise, dass bis Ende 2012 jegliche Tariferhöhung unzulässig ist. Eine Nuklearsteuer von jährlich 500 Millionen Euro ist in Vorbereitung, und bis 2015 sollen nun zwei Atomkraftwerke außer Betrieb gehen. Bruno Tobback, Vorsitzender der SP.A, will sogar eine staatliche Ankaufzentrale gründen, die in großem Stil Energie einkauft und ohne Zuschläge an die Konsumenten weiter verkauft. Eine erste Kalkulation ergab: Belgiens Bürgerinnen und Bürger würden insgesamt 850 Millionen Euro weniger für Energie zahlen. Auf regionaler Ebene will die flämische Regierung ein eigenes Energieunternehmen gründen, das alternative Energien forcieren soll. Über Off- Shore-Windparks in öffentlicher Hand wird nachgedacht.
Vom gesparten Euro zur kulturellen Erneuerung
Zusammen stärker – das haben die flämischen Haushalte zunächst finanziell gespürt. Direkt, aber auch indirekt. Denn erstmals seit langem ist die Zahl der Haushalte gesunken, die ihre Energierechnung nicht mehr bezahlen können. Wichtig war auch, dass der ehemalige Monopolist Elektrabel bis jetzt entweder den Auktionen fern blieb oder manipulierte Gebote einreichte – und so seinen Ruf noch mehr verschlechterte. Der Marktanteil des Konzerns ist in Flandern auf heute nur noch 50 Prozent gesunken.
Nicht zuletzt erlebt die Genossenschaftsidee eine Renaissance. Aus den ersten temporären Einkaufsgemeinschaften bilden sich allmählich stabilere kooperative Gebilde. In Diskussionen taucht der Gedanke auf, dass man aus den einzelnen Einkaufsschienen einen Gesamtplan genossenschaftlicher Entwicklung machen könnte. So würde sie in ökologischem Gewand wieder entstehen, die Idee der vernetzten Selbstorganisation.
Was sich die LINKE mit ihrem PLAN B, ihrem „roten Projekt für einen sozial-ökologischen Umbau“, erarbeitet hat, kann in vielerlei Gestalt Wirklichkeit werden. In Flandern und anderswo. Auch und gerade in Deutschland. Warum sollte es nicht möglich sein, die ohnehin vorhandenen Initiativen einer Energiewende von unten mit Einkaufsgemeinschaften zu bereichern? Weshalb nicht denjenigen die Hand reichen, die unter hohen Preisen besonders leiden? Ein breites soziales Fundament für die ökologische Umkehr – das ist gerade jetzt der entscheidende Punkt.
erschienen in: >Neues Deutschland<, 15.12.2012