Deutschland vor dem Kollaps: Wenn diese Diagnose richtig ist, sollten wir jedes Tabu brechen und kein einziges Privileg gelten lassen
Zu viel Fett, zu wenig Bewegung, durch und durch verkalkt – der Patient Deutschland steht kurz vor dem Schlaganfall. Nur strengste Diät kann uns noch heilen. Leider werden wir immer wieder rückfällig, bestellen Gänsebraten auf Pump, und unsere Ärzte in Berlin, München und anderswo haben nicht den Mut, eine radikale Therapie zu verordnen. Zweifellos sind sie besser geworden, haben neue Medikamente ausprobiert, aber den entscheidenden Schritt, um unsere Sucht an der Wurzel zu kurieren, gehen sie nicht. Zu Recht fordern unsere mutigsten Mediziner, Friedrich Merz etwa, dass wir im nächsten Jahr entschlossen auch jene Barrieren der individuellen Vertragsfreiheit beseitigen müssen, die uns in Gestalt halsstarriger Gewerkschaften lähmen. Das Ergebnis vom vergangenen Wochenende, dieser halbseidene therapeutische Kompromiss, darf nicht das letzte Wort bleiben.
Leider sind auch unsere Besten immer noch inkonsequent. Ihre Vorschläge zur Rekonstruktion der deutschen Gesellschaft sind zu einseitig, beziehen sich nur auf den Staat, auf die soziale Sicherung und nun vor allem auf die Gewerkschaften. Dieses Zaudern und Zögern sollten wir nicht hinnehmen. Wenn unsere Lage tatsächlich so miserabel ist, wie behauptet, dann hilft nur eins: tabula rasa. Wir fegen sämtliche Institutionen vom Tisch – nicht nur die Versorgungssysteme, die unsere Arterien verkalken, nicht nur den Staat, der uns Sicherheit vorgaukelt, sondern auch die parlamentarische Demokratie, den Markt und das Privateigentum.
Spielen wir doch in Gedanken den Ernstfall, den Kollaps, den gesellschaftlichen Schlaganfall, schon mal durch. Hingestreckt liegen wir da, und die eine Hälfte unseres kollektiven Gedächtnisses, jener Hirnteil, in dem Politik, Ökonomie und alle anderen sozialen Arrangements abgespeichert sind, wäre gelöscht. Wir müssten tatsächlich von vorn anfangen, unser Gemeinwesen neu erfinden. Und keine Last der Vergangenheit würde uns hindern. Denn jede Erinnerung an Privilegien und Ansprüche, an Schulden und Zinsforderungen, an Eigentumstitel und Gewohnheitsrechte wäre unserem Black-Out zum Opfer gefallen.
Langsam erheben wir uns und sehen erstaunt den unglaublichen Reichtum an nützlichen Gegenständen, der überall zu finden ist. All das, was wir zum Leben brauchen, ist im Überfluss vorhanden. Natürlich entdecken wir auch so manches, dessen Sinn wir nicht entschlüsseln können. Warum haben einige von uns damals in schäbigen Stadtquartieren gewohnt und andere, nicht weit entfernt, in prachtvollen Villen?
Die merkwürdigen Prinzipien, denen wir uns offenbar verpflichtet fühlten, könnten wir selbstverständlich in anderen Ländern studieren. Denn dort bevorzugen die einen immer noch die Armut und andere den Reichtum. Aber warum? Niemand liefert eine Erklärung, jedenfalls keine, die uns überzeugen könnte. In unserer egalitären Unschuld, ohne jedes Gefühl für angestammte Rechte, verstehen wir einfach nicht, was sie meinen. Weshalb arbeiten Millionen acht, zehn und zwölf Stunden, ohne dass sich an ihrer Lage irgendetwas verbessert, während einige wenige, die nichts tun, die Erträge bekommen.
Diese Welt ist uns fremd geworden, und wir beschließen, eine neue zu bauen. Aber nach welchen Prinzipien und Kriterien? Welche unveräußerlichen Rechte soll es geben und welche Pflichten? Wer entscheidet über die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen? Auf der Suche nach Antworten durchstöbern wir das schriftliche Vermächtnis der vergangenen Zeit und stellen fest, dass es keine brauchbaren Baupläne für reiche Gesellschaften gibt. Liberté, Egalité, Fraternité – unter diesen Stichworten hatte es schon einmal eine große Debatte gegeben. Aber das war vor mehr als 200 Jahren und kann uns heute nicht mehr überzeugen. Das große Experiment des Ostens, das über 70 Jahre währte, ist ebenfalls gescheitert und hinterlässt uns keine Erfahrungen, die wir verarbeiten könnten.
So bleibt uns nur die Wiederauferstehung aus dem Nichts, die Schöpfung aus uns selbst, nichts Geringeres als eine große Anstrengung mit unsicherem Ausgang. Hoffnungslos wäre diese Herausforderung aber nur dann, wenn wir die große Freiheit nicht mitdenken, die wir spätestens nach unserem gedanklichen Abschied von der Vergangenheit genießen. Wenn keinerlei Sonderrechte gelten, wenn wir den großen Eigentumstiteln die Anerkennung versagen, wenn wir vor allem das ökonomische Band zerschneiden, das uns fesselt, wird vieles möglich, was man heute kaum zu denken wagt. Und der Streit über Rente, Gesundheit, Steuern und Arbeitsmarkt würde sich als das zeigen, was er jetzt schon ist: eine absurde Veranstaltung mit vertauschten Rollen. Während wir im Hamsterrad immer schneller treten sollen, bleibt das deutsche Establishment an seinem Platz: Fett, unbeweglich und verkalkt.