Toll Collect und andere Beispiele: Alle reden von Pleiten, Pech und Pannen – vielleicht wäre politische Korruption das passendere Stichwort
Ein viel zu geduldiger Stolpe hat sich von einem unverschämten Industriekonsortium an der Nase herumführen lassen. So oder ähnlich lauten fast alle Reaktionen auf das vorläufige Ende von Toll Collect. Dass Stolpe schneller und entschlossener hätte handeln müssen, dass die beteiligten Unternehmen immer wieder die Grenze zur Sittenwidrigkeit überschritten haben, wer wollte das bestreiten. Aber ist das der Kern jener Angelegenheit, die einen passenden Namen noch nicht gefunden hat. Mautaffäre? Stolpeaffäre? Desaster für die deutsche Industrie? Vielleicht hat die Sache doch viel mehr als es scheint mit dem Kanzler selbst zu tun, und vielleicht wäre dann Staatsaffäre der richtige Titel. Denn eine ganz andere und zu den Fakten viel besser passende Interpretation würde lauten: Toll Collect ist ein für das System Schröder typischer Fall politischer Korruption.
Dabei geht es nicht, jedenfalls nicht primär, um persönliche Bereicherung durch Mandatsträger, nicht darum, sich zugunsten des eigenen Kontos bestechen zu lassen. Politische Korruption ist vielmehr ein Deal der besonderen Art: Den Gewählten, vor allem jenen, die aus den unteren Schichten stammen, wird Akzeptanz, Renommee, Vertrauen und freundliche Begleitung gewährt, wenn sie dem Establishment finanziell zu Diensten sind. Die einen bekommen den Ritterschlag, die anderen das Geld – zu Lasten aller anderen, versteht sich.
Ein Beispiel ist das Verhältnis zwischen Helmut Kohl und Leo Kirch. Kohl protegiert die Privatsender von Leo Kirch, wo er nur kann, und erhält im Gegenzug eine Berichterstattung über sich und seine Regierung, die angenehmer kaum sein könnte. Das Interesse der Allgemeinheit an kritischem, distanziertem Journalismus bleibt auf der Strecke. Aber im System Kohl war diese Art des Gebens und Nehmens eher eine Ausnahme. Das wichtigste Fundament seiner Regentschaft war die innerparteiliche Korruption: Wer brav dem Dicken folgt, wird gefördert.
Schröder dagegen pflegt einen ganz anderen Stil. Adressat seiner Verlockungen sind nicht die Soldaten der Partei, sondern die Spitzen der Gesellschaft. Nichts gegen sie zu unternehmen, ist gut. Ihre Interessen aktiv zu fördern, ist noch besser. Am besten aber ist es, ihnen handfeste Vorteile zu verschaffen und im Gegenzug kulturelles Kapital zu ernten. So jedenfalls scheint er seine Spielregeln zu definieren.
Ein erstes Beispiel ist die Rettung des konkursbedrohten Holzmann-Konzerns im Spätherbst 1999. Nach einem Gespräch des Kanzlers mit den Vorständen der finanzierenden Banken ist plötzlich die Kuh vom Eis. Schröder lässt sich feiern. Vier Wochen später beschließt die Bundesregierung in einem vorweihnachtlichen Coup die Steuerfreistellung der sogenannten Veräußerungsgewinne. Davon profitieren in erster Linie die Großbanken und Großversicherungen, die nun ihre umfangreichen Unternehmensbeteiligungen steuerfrei verkaufen können. Der Verdacht, dass hier ein Zusammenhang besteht, liegt nahe, aber lässt sich wie fast immer, wenn es um politische Korruption geht, nicht beweisen.
Nach der Holzmann-Episode hält Schröder an seinem Kurs fest. Die ganz Großen zu begünstigen, wird zu einer Konstante seiner Regierung. Dass die Körperschaftssteuern radikal und pauschal auf 25 Prozent gesenkt werden, mag noch als ganz normale Standort-Förderung gelten, der sich moderne Sozialdemokraten nicht verschließen wollen. Beim Kleingedruckten zeigt sich allerdings wieder, dass vor allem die Konzerne profitieren. Denn nur sie können mit ihrer Manpower, mit ihren versierten Bilanzabteilungen, das nahezu uneingeschränkte Recht, Verluste und Gewinne vor- und zurückzutragen, auch nutzen. So werden Zustände geschaffen, die in keinem Steuerparadies zu finden sind. Kapitalgesellschaften zahlen im Jahr 2001 per saldo keinen Cent Körperschaftssteuer und bekommen vom Staat 426 Millionen Euro erstattet. Später brechen die Gewerbesteuern ein. Wahrend Allianz und Deutsche Bank feiern, bluten die Kommunen.
In der Spätphase der ersten rot-grünen Legislaturperiode mehren sich die Anzeichen, dass dem System Schröder auch eine ganz persönliche Komponente nicht fremd ist. Im Sommer 2002 lässt Wirtschaftsminister Müller gegen die Bedenken des Bundeskartellamtes die Übernahme der Ruhrgas AG durch E.ON genehmigen. Hat Müller verstanden, dass er ohne Vorleistung kaum Chancen hat, später, nach seiner schon damals absehbaren Demissionierung, einen Millionen-Vertrag von der Industrie zu bekommen? Der Verdacht liegt nahe, aber Beweise gibt es wiederum nicht. Heute jedenfalls ist Müller Chef der E.ON-Tochter Ruhrkohle.
Passt womöglich auch Toll Collect in dieses Schema? Die FAZ stellt „Perspektiven privater Alterssicherung“ in den Raum: „… und damit ist nicht ein schon vergessener Herr Bodewig gemeint.“ Bislang gibt es allerdings keine belastbaren Hinweise, nur Fragen, die viel zu wenig gestellt werden. Warum wurde der Vertrag, der angeblich 6.000 Seiten umfasst, innerhalb weniger Wochen ausgehandelt und zwei Tage vor der Bundestagswahl am 20. September 2002 abgeschlossen? Wie ist der Druck zu erklären, der offenbar für die Wahrung öffentlicher Interessen keinerlei Zeit ließ? Hat die Bundesregierung die einseitige Risikoverteilung und den weitgehenden Haftungsausschluss möglicherweise nicht fahrlässig, sondern bewusst akzeptiert? Gab es im Gegenzug Versprechungen der besonderen Art?
Diese Fragen werden vermutlich nie beantwortet. So geheim die Spitzengespräche im kleinen Kreis bleiben, so offenkundig ist allerdings auch, dass in diesem Fall die Kalküle beider Seiten, welche sie auch immer gewesen sein mögen, nicht aufgegangen sind. Ausnahmsweise ist nicht das Wohl der Allgemeinheit der alleinige Verlierer. Nun könnte Toll Collect Anlass sein, mit dem System wechselseitiger Vorteilsgewährung zu Lasten Dritter Schluss zu machen. Dazu kommt es natürlich nicht. Wer sollte das auch fordern und durchsetzen? Denn immer wenn die Mächtigsten mit von der Partie sind, muss auch die Opposition still halten. CDU-Fraktionsgeschäftsführer Kauder hat das verstanden: „Ein Untersuchungsausschuss ist jetzt nicht das Thema, da er die aktuellen Probleme nicht löst.“