ZWISCHEN ANTHONY GIDDENS UND TONY BLAIR Linkspartei und WASG haben noch viel zu tun, wenn ihre Programmatik reifen soll
Wer Visionen hat, soll zum Augenarzt gehen. Ob manchem Pragmatiker in der PDS dieser uralte Spruch von Helmut Schmidt schon auf der Zunge gelegen hat, wissen wir nicht. Aber offenkundig ist: Die linke Programmdebatte wird härter. Und das ist gut so, könnte man mit Klaus Wowereit sagen. Denn Überzeugungen sollten ausgesprochen werden, damit man sie drehen und wenden, annehmen und verwerfen kann. Vorreiter in diesem Sinne ist die PDS in Sachsen-Anhalt. Am Wochenende präsentierte sie auf einem Landesparteitag ihre neue Weltanschauung. Angeblich ein Produkt eigener Sehschärfe, erinnerte manches allerdings an eine bekannte Optik mit englischem Schliff. Auf jeden Fall hätte Anthony Giddens, der geistige Vater von Tony Blair, in Magdeburg seine Freude gehabt. In PDS-Erstaufführung waren die beiden wichtigsten seiner vor zehn Jahren formulierten Sätze zu hören: Als „nicht umkehrbarer Prozess“ fordert die Globalisierung „ein völlig neues Herangehen linker Politik“, und der Staat soll tun, was „nötig ist und sich dort wo möglich zurückziehen“. Der angenommene Leitantrag enthielt dann zwar nicht mehr die zu Recht von Oskar Lafontaine als Entgleisung kritisierte und dann auch zurück genommene Formel, wer „Antikapitalismus mit nationalen und etatistischen Vorzeichen“ wolle, öffne „das Tor zu nationalistischer, antisemitischer und fremdenfeindlicher Mobilisierung“, aber die im Stil von New Labour vorgetragene Analyse, die zu diesem Ausrutscher führte, ist geblieben.
Nun muss nicht alles falsch sein, was „neue Sozialdemokraten“ als notwendige Veränderung erkennen. Zu Recht nennt die PDS Sachsen-Anhalt den „umfassenden Strukturwandel von der Industriegesellschaft zur wissensbasierten Produktion“ – eine Tatsache, aus der man gemeinsam mit der SPD den Schluss ziehen kann, dass Bildungspolitik vorsorgende Sozialpolitik und die Gleichheit der Startchancen eine zentrale Staatsaufgabe ist. Wer dann aber – auf dem von Schröder und Clement vorgezeichneten Pfad – nur noch ergänzend das Existenzminimum für die Chancenlosen, die Förderung von Innovationen und eine gute Infrastruktur als Politikziele nennt, akzeptiert stillschweigend die bewusst propagierte Enge deutscher Standortdebatten, den tausendfach wiederholten Refrain: Der Nationalstaat kann nur noch kleine, für die Unternehmen möglichst schmackhafte Brötchen backen, die man dann wahlweise Humankapital, Forschungslandschaft oder Wissens-Cluster nennt.
So richtig es ist, sich auf diese modischen Vokabeln einzulassen und zu fragen, ob ihnen eventuell ein noch unentdecktes emanzipatorisches Potenzial innewohnt, so absurd ist die Bescheidenheit, die alles Andere nicht mehr sieht und nicht mehr zu unterscheiden weiß, wo die Globalisierungszwänge enden und groß angelegte Angriffe auf den Sozialstaat beginnen. Mit der Plünderung öffentlicher Kassen, mit massenhafter Marginalisierung, mit heuschrecken- freundlicher Steuerpolitik, mit Lohndruck und Umverteilung, mit der Ignoranz gegenüber ostdeutschen Schrumpfungsprozessen, hat sich die Bundesrepublik in eine selbst verschuldete, von keinem Weltmarkt diktierte Blockade begeben, die nicht nur unnötig und unsozial, sondern angesichts der deutschen Neigungen auch gefährlich ist. Eine Partei, die das nicht mehr anprangert, ist zwar kompatibel, aber auch überflüssig.
Die „kopernikanische Wende“ von Magdeburg ist, wie nicht anders zu erwarten war, sowohl in der Linkspartei.PDS als auch in der WASG mit kräftigen Worten kommentiert worden. Am lautesten von einer Gruppe, die sich aus beiden rekrutiert, „Antikapitalistische Linke“ nennt und den Verrat am demokratischen Sozialismus geißelt. Das ist ihr gutes Recht, nur sollte man sich vor der Schlussfolgerung hüten, dass der Irrweg der Giddens-Jünger zwangsläufig ein Ritterschlag für den Gegenpol ist. Denn die Truppe, die sich um Sahra Wagenknecht schart und gern den Rächer der Unterdrückten spielt, hat keine Pfeile im Köcher, mit denen man im 21. Jahrhundert noch schießen könnte. Ein krasses Beispiel ist die von ihr vorgeschlagene Erbschaftssteuer: Nach dem Tod betuchter Personen soll ihr Nettogeldvermögen jenseits der Grenze von einer Million Euro zu 100 Prozent besteuert werden. Das Wahlvolk müsste begeistert sein, weil nur eine winzige Minderheit betroffen ist, und so ließe sich – das ist angeblich der besondere Clou – binnen einer Generation das Problem der Staatsschulden vollständig lösen. Wirklich begeistert wären aber nur die angelsächsischen Heuschrecken: Weil permanent und in großem Umfang Wertpapiere verkauft werden müssten, um anschließend der Steuerpflicht nachzukommen, würden die Preise deutscher Vermögenswerte drastisch sinken.
Junge, gewiefte Dialektiker, die eine Karriere bei Finanzinvestoren planen, sollten vorsorglich schon jetzt ein Praktikum bei der „Antikapitalistischen Linken“ buchen. Zwischen den beiden unbrauchbaren Extremen eine ebenso realistische wie visionäre Programmatik für die neue Linke zu entwickeln, wird ein schwieriger Prozess. Da ein theoretisch fundiertes Konzept für einen demokratischen Sozialismus moderner Prägung gegenwärtig nirgends zu finden ist, bleibt nur der Versuch, den Ausweg aus der deutschen Selbstblockade skandinavisch und – auf jedem Politikfeld – ökologisch zu buchstabieren. Wer mehr zu bieten hat, soll sich melden, aber bitte die Logik nicht vergessen.