Januar 2018
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Vorwärts. Wenn SPD und Grüne andauernd versagen, muss DIE LINKE viel stärker werden

Von dir erzählt diese Geschichte. De te fabula narratur. Das sagte einst Karl Marx, als er seinem deutschen Publikum empfahl, auf England zu schauen. Das erste und damit klassische, ebenso stürmische wie unsoziale System der industriellen „Plusmacherei“ zeige anderen Nationen das Bild ihrer eigenen Zukunft. Ökonomisch gilt das längst nicht mehr, aber politisch vielleicht doch. Welche List der Geschichte – das alte England kündet in Gestalt eines alten Mannes und einer alten Partei von einem Aufbruch, der undenkbar schien.

Jahrzehntelang als traditionalistischer Zausel verhöhnt, ist Jeremy Corbyn zum Repräsentanten einer an Haupt und Gliedern erneuerten Labour Party geworden. Nach dem Versagen früherer Labour-Regierungen, nach den Kriegslügen und Kriegsverbrechen des Tony Blair, angesichts der mit dem Brexit verbundenen Ratlosigkeit, hätte auch Labour den Weg der französischen oder niederländischen Sozialdemokraten beschreiten können: starrsinnig in den Untergang. Das Gegenteil geschah. Mit wiedergefundener Radikalität, mit erkennbarem Profil (For the many, not the few), mit dem Bekenntnis zu sozialer und ökologischer Gerechtigkeit und mit 300.000 neuen, vor allem jungen Mitgliedern bestimmt Labour heute die Agenda und treibt die Konservativen vor sich her.

Für dich, liebe SPD, erzählt good old Corbyn diese Geschichte. Aber du hörst nicht zu. Du begreifst nicht, dass Verantwortung für das Land auch ganz anders aussehen kann. In deinem Magen gärt noch immer Schröders verdorbene Kost. Brechreiz hast du ständig, aber kotzen willst du nicht. Käme der befreiende Akt, könntest du wahrnehmen, was Jeremy dir sagt. Das progressive Potenzial ist auch in Deutschland viel stärker als gedacht. Wenn du seine Mobilisierung wagst, musst du Stürme der Entrüstung und Verleumdung nicht fürchten. Dir zur Seite würden überall Menschen stehen, die – bislang gebeugt, nun aber stolz – dafür kämpfen, dass sich ihr Leben und die Gesellschaft insgesamt zum Besseren wenden.

Solange die SPD die Signale nicht hört und sich weiter quält, weil ihr Mut, Ideen, Moral und Personal fehlen, ist Rot-Rot-Grün für die Bundespolitik eine tote Option. Deshalb findet das wache, zivilisierte, soziale, ökologische und kriegsskeptische Deutschland keinen angemessenen politischen Ausdruck. Weil es keine glaubwürdige und wachrüttelnde linke Alternative gibt, können die Rechten die Themen setzen.

Die Mehrheiten sind da

Der Rechtstrend ist kein Naturgesetz. Zeichen solidarischer Vernunft gibt es reichlich. Die Willkommenskultur des Spätsommers 2015 war beeindruckend. Die Kampagne gegen TTIP und CETA, gegen diese demokratiegefährdenden Handelsverträge, erfasste Hunderttausende in einem Themenfeld, das vor fünf Jahren nur kleinsten Kreisen bekannt war. Mit unglaublicher Geschwindigkeit kam es zu massenhafter Aufklärung und riesigen Demonstrationen. Die Volksentscheide in Hamburg (Unser Hamburg – Unser Netz) und in Berlin (Tempelhofer Feld) haben gezeigt, dass auch bei uns Mehrheiten gegen das wirtschaftliche, politische und mediale Establishment und für das Gemeinwohl möglich sind.

Linksprojekte wären auch auf der Bundesebene populär. Umfragen bestätigen immer wieder, dass ein verlässlicher Sozialstaat, ambitionierte Umweltpolitik, zivilisierte Friedenssicherung und mehr Demokratie ausdrücklich gewünscht sind. Im Februar und März 2017 offenbarte der Sprung der SPD um zehn Prozentpunkte, dieser kurze Schulz-Moment, wie sich die Verhältnisse drehen, wenn man politisch zu artikulieren beginnt, was als mehrheitliches Begehren schon da ist.

Im Moment scheint es so, als müsse das linke Deutschland von vorn beginnen. Am Anfang stehen die naheliegenden, aber bislang völlig vernachlässigten Fragen, die man angesichts der Starre im eigenen Land am besten aus dem Ausland importiert. Weshalb kam es zur spektakulären Wende der Labour Party? Warum gewann im Kernland des Anti-Sozialismus der selbst erklärte demokratische Sozialist Bernie Sanders fast die Kandidatur der Demokratischen Partei? Wie kann es sein, dass der eigenwillige, bisweilen zu Entgleisungen neigende Links-Kandidat Jean-Luc Mélenchon vor Zehntausenden in Marseille, Lille, Rennes und anderswo Wahlkampf-Vorlesungen zelebriert und im ersten Wahlgang der französischen Präsidentenkür 30 Prozent Zustimmung von der jüngsten Wählergruppe erhält?

Drei alte Männer, allesamt Außenseiter und Charismatiker, haben im Verein mit jungen Internet-Garden Hirne inspiriert, Herzen berührt und – gemessen an ihren jeweiligen Ausgangswerten – grandiose Erfolge erzielt. Offenbar findet die Kombination von mehr Gerechtigkeit, mehr Nachhaltigkeit, mehr Vielfalt und mehr Demokratie auch in kapitalistischen Zentren Resonanz, wenn sie auf „geerdete“ Weise radikal ist. Und überall zeigt sich: Geradlinigkeit, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit sind fundamental wichtig.

Wer soll, wenn die SPD weiter degeneriert, diese Lektionen beherzigen? Die Grünen, die sich zu Recht um Klima, Pflanzen und Tierwelt sorgen, aber das gemeine Volk als verdächtiges Wesen betrachten und jeden Gedanken an die Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft vergessen haben? Eine neue, künstlich erzeugte und personalisierte Wahlplattform, die sich von Emmanuel Macron anregen lässt und nun links-mittig in Deutschland versucht, was rechts-mittig in Frankreich schon gelang? Für den Moment sind das Gedankenspiele ohne Substanz.

So bleibt nur die eine Konsequenz: Macht DIE LINKE zur 20-Prozent-Partei, damit die SPD unter Druck gerät und die Grünen erleben, dass es jenseits der freundlichen Anlehnung ans Besitzbürgertum noch andere Varianten gibt. Aber der Gründungsschwung der Jahre 2005 bis 2009 ist dahin, der Glaube an die eigene Kraft nur noch schwach. Nach zwölf Jahren Opposition hat sich DIE LINKE im Reservat eines kleinen, aber unangefochtenen Anteils am Geschehen eingerichtet. Dort agiert die Partei als wäre sie eine Gewerkschaft im politischen Raum. Das unmittelbare Geldinteresse der Transferempfänger, Niedriglöhner und Normalverdiener war im vergangenen Wahlkampf wiederum ihr dominantes Thema. Für eine Nischenpartei, die sich nicht zutraut, die Bundespolitik insgesamt zu bestimmen, mag diese Verengung passen. Wer aber mehr will, kann nicht den Herausforderungen ausweichen, die unangenehm sind oder für die man bislang von der Wählerschaft keine Kompetenz zugesprochen bekommen hat.

Kräftiges Rot braucht sattes Grün

Auf dem Weg zu einer größeren Linkspartei sollte klar sein: Gerechtigkeit ist der Markenkern, aber nicht das einzige Thema. Aktuell diskutiert die Bundestagsfraktion der LINKEN, ob sie Flucht und Migration liberal regeln will (volle Wiederherstellung des Asylrechts) oder ultraliberal (schrankenlose Einwanderung). Aber was ist tatsächlich wirksam gegen das unendliche Leid und gleichzeitig zustimmungsfähig in der besorgten Wählerschaft? Abgeordnete, die solche Fragen stellen, werden schnell zur Zielscheibe übler Verbalgeschosse, abgefeuert mit dem Gestus überschäumender Gesinnungsethik. Manch anorganischer Intellektueller (lange haltbar, ohne Kontakt zum Leben) ergänzt: Vergesst den Nationalstaat, schleift sofort alle Grenzen.

So schwankt DIE LINKE zwischen eifriger Realpolitik und rebellischer Geste. So paaren sich – wie in Deutschland schon so häufig – der Empirismus, der die Potenziale nicht sieht, mit dem Romantizismus, der heute will, was erst übermorgen sein kann. So werden Flucht und Vertreibung, innere und äußere Sicherheit zu Erregungszonen, die rationalem Kalkül nur bedingt zugänglich sind.

Roger Willemsen hat in seinem Buch „Das Hohe Haus“ beschrieben und geradezu euphorisch gewürdigt, dass DIE LINKE in deutlicher Abhebung von anderen Fraktionen exzellente Fachleute hat, die sich von Phrasen fernhalten und den Alltagssorgen zuwenden. Ihren Ruf als Sozialpartei hat sie sich redlich verdient. Längst fällig ist allerdings der nächste Schritt: Auf welcher Grundlage sollen Wohlstand und Sozialstaat künftig stehen?

Immer noch dominiert die alte Vorstellung, dass die ökonomische Maschinerie mit voller Last zu fahren ist, um ihre Verteilungsmasse zu maximieren. DIE LINKE hat zwar ein Parteiprogramm, das über weite Strecken den Geist ökologischer Erneuerung in sich trägt. In der Praxis allerdings ist man voll dabei auf der dampfenden Titanic und bildet dort bestenfalls die Vereinigung kritischer Passagiere. Weniger Kronleuchter und bessere Mannschaftsdecks! Rettungsboote für alle! Beobachtungsposten rund um die Uhr doppelt besetzen! Das sind die Forderungen. Und manchmal ist noch zu hören: Die Reederei gehört in Besatzungshand! Aber kaum jemand aus der Sprecherriege der kritischen Passagiere spricht aus, was auch zu sagen wäre: Wir sind auf dem falschen Dampfer!

Noch betrachten allzu viele den nötigen Systemwechsel nur gesellschaftlich, nicht im Verhältnis zur Natur. Den abartigen Milliardenvermögen, den Vernichtungszügen vagabundierenden Kapitals den Salut zu verweigern, wird aber, wenn überhaupt, nur mit sozialen und gleichzeitig ökologischen Begründungen gelingen. Im Zeitalter des Klimawandels und des Artensterbens funktioniert kräftiges Rot nur im Einklang mit sattem Grün. Diese Einsicht ist kein Aufruf zum kollektiven Anbau von Bio-Radieschen in selbstgestrickten Wollpullovern, sondern ein Weckruf. Denn, wie alle konsequenten Umweltschützer wissen, die Bewahrung der Lebensgrundlagen verlangt Kooperation, Gleichheit und Vorsorge mit weitem Horizont, also eine Renaissance linker Zentralbegriffe.

DIE LINKE wird erwachsen werden müssen – in der Breite der Themen und in der Kultur ihrer Willensbildung. Dabei sollte klar sein: Es geht auch um Regierungsmacht, aber eben nicht um vorsorgliche Kompatibilität. Wenn potenzielle Partner sich nur minimal bewegen, dann sind nicht Ministerien, sondern Oppositionsbänke der richtige Ort. Verbündet mit zivilgesellschaftlichem Engagement kann eine moderne, ihre Krankheiten überwindende und – wo immer nötig – auch radikale Partei viel erreichen. So könnte DIE LINKE werden, was sie ihrem Namen nach schon ist.

leicht gekürzt erschienen in: der Freitag, Ausgabe 1, 4. Januar 2018